"Ich habe das Gefühl, an dem, worüber ich geschrieben habe, überhaupt nicht mehr interessiert zu sein. Das gilt auch für das neue Buch." - Michel Houellebecq, dessen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" dieser Tage erschien.

Foto: DUMONT Buchverlag/Philippe Matsas/Opale

Heinz-Norbert Jocks sprach mit dem französischen Provokateur und sein neuestes Buch "Die Möglichkeit einer Insel".

Paris – Der neue Houellebecq ist da. Nach fast vier Jahren nun eine Geschichte über zwei Neo-Menschen, die noch an die romantische Möglichkeit einer Insel des Glücks glauben. Man hatte den am meisten gelesenen französischen Schriftsteller seiner Generation, 1958 geboren, in Irland vermutet. Dabei verbrachte er die Zeit, da er an seinem jüngsten Roman schrieb, in Südspanien. In Frankreich wechselte er zudem vom Verlagshaus Flamarion zu Fayard und kassierte dafür 1,3 Millionen Euro.


STANDARD: Warum verließen Sie vor Jahren Frankreich?
Michel Houellebecq: Vermutlich, weil ich das Land schon zu gut kannte. Es gab nichts mehr zu entdecken.

STANDARD: Ist der Mensch von seiner Natur her Nomade?

Houellebecq: Eigentlich nicht. Ich bin zwar einer, aber in der Hinsicht bin ich nicht normal. Nein, die meisten Menschen benötigen eine stärkere Verwurzelung als ich.

STANDARD: Ist Reisen für Sie eine Daseinsform?

Houellebecq: Ja, es gefällt mir, und ich gehe gerne in Hotels. Das ermöglicht ein unbeschwerteres Leben, weil man sich weniger sorgt als in festen Beziehungen. Man darf sich nicht zu stark an irgendwas binden. Man ist wirklich Nomade, wenn man einzig über seinen Körper verfügt und sich von Besitz fern hält. Mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber Besitz kann man sich so gut wie überall wohl fühlen.

STANDARD: Für Ihren neuen Roman "Die Möglichkeit einer Insel" zog es Sie nach Spanien.

Houellebecq: Ja, ich habe da zwei Jahre gewohnt. Übrigens sehr viel alleine mit meinem Hund, in einer Privatresidenz, in einem Badeort gelegen, außerhalb der Saison. Ich hatte dort wirklich das Gefühl der Fremdheit und des Abgeschnittenseins von der Welt sowie das Gefühl, die von mir in dem Buch beschriebene Situation zu leben. Wenn ich die Residenz verließ, so nur für eine endlose Fahrt über die Autobahn. Ich hatte die Menschenwelt verlassen. In den Jahren habe ich fast nichts anderes getan, als dieses Buch zu schreiben.

STANDARD: Ihr Roman handelt von einem Zeitgenossen namens Daniel und seinen Klons, den Neo-Menschen. Also Sciencefiction.

Houellebecq: Die Gegenwartserzählung von "Daniel 1" ist schon eine leichte Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen der nächsten zehn Jahre. Zum Beispiel denke ich nicht, dass es das Jungmädchenmagazin Lolita, für das die Freundin von Daniel arbeitet, heute schon geben könnte. Der Rest des Romans, die Klons, die Neo-Menschen, das ist eine Antizipation ohne Garantie auf Verwirklichung.

STANDARD: Dennoch hat man beim Lesen keineswegs den Eindruck, was da passiert, sei unwahrscheinlich.

Houellebecq: Bestimmte Prozesse sind, wie ich glaube, unumkehrbar. Alles, wozu die Wissenschaft in der Lage ist, wird sie sich auch erlauben zu realisieren. Und es wird das, was wir heute für menschlich oder wünschenswert erachten, auf den Kopf stellen. Ich habe lange gebraucht, das zu akzeptieren. Nicht die Literatur, einzig die Wissenschaft sagt die Wahrheit, und diese setzt sich durch.

Die Sciencefiction hat mich zu einer bestimmten Zeit sehr interessiert. Ab dem Moment, da sie sich fast ausschließlich der Seite der Informatik zuwandte, kehrte ich ihr den Rücken. Nicht zum ersten Mal stelle ich fest, dass mich ein Thema, das mich beim Schreiben begeisterte, danach nicht mehr berührt.

So war es im Fall von H. P. Lovecraft. So verhielt es sich mit den Swingerklubs und mit Thailand. Ich hatte erwogen, mich dort niederzulassen, aber nach Plattform war mir alle Lust darauf vergangen. Das gilt auch für das neue Buch. Ich habe das Gefühl, an dem, worüber ich geschrieben habe, überhaupt nicht mehr interessiert zu sein. Weder an PS-starken Autos noch an den Anhängern der Menschenklonungssekte. Nun verlasse ich auch Spanien.

STANDARD: Apropos Sciencefiction, in dem Zusammenhang lasen Sie Clifford Simak.

Houellebecq: Sein "City" (1952, dt.: "Als es noch Menschen gab", Anm.) ist eine Art Lieblingsbuch. Dort reflektiert er über die Zukunft der Stadt. Werden die Menschen sich weiterhin treffen und in der Stadt leben, oder werden sie nur noch virtuell miteinander kommunizieren? In meinem Roman kommunizieren die Neo-Menschen virtuell, und sie haben die grundsätzlichen Charakteristika der Menschlichkeit verloren: das Lachen, die Tränen, den Humor.

STANDARD: Es entsteht der Eindruck, Sie schrieben über das Klonen eher affirmativ denn kritisch.

Houellebecq: Man wird mir vorwerfen, detailliert gezeigt zu haben, was die Durchschnittsmenschheit ist, und nicht daran zu zweifeln, dass alles, was technisch möglich ist, auch in die Praxis umgesetzt werden wird. Die Klonung findet statt. Ob ich mir wünsche, geklont zu sein, ich? Vielleicht. Jedoch würde ich es nicht mögen, meinen Klon zu sehen. Dann müsste ich mich auf der Stelle umbringen.

STANDARD: Wie sehen Sie die Menschheitsgeschichte?

Houellebecq: Eher als Erfolg. Wir zeichnen uns aus durch eine technische Meisterschaft in der Beherrschung der Natur. Nun hätte sich der Mensch auch selbst verändern müssen, doch dazu fehlten ihm die Mittel. Alles in allem hat er getan, was er konnte.

STANDARD: Träumen Sie von einer besseren Welt?

Houellebecq: Ich bin weder für langfristige Prozesse noch für Pläne. Ich denke, man muss experimentieren, sehen, was geht, und alles gemäß den Bedingungen ändern. Bezogen auf soziologische wie politische Gegebenheiten muss man wie in anderen Wissenschaften die Ergebnisse von Experimenten einbeziehen, um Theorien zu modifizieren. In der Praxis darf man sich auf keine Ziele festlegen, die ein Jahrhundert entfernt sind. Man muss sich solche setzen, die in fünf Jahren erreichbar sind, und diese wenn nötig modifizieren.

Jedenfalls kann das mit dem Egoismus des Menschen auf Dauer nicht funktionieren. Die utilitaristische Idee auf der Grundlage des Liberalismus, wonach die Verbindung aller Egoismen das gemeinsame Wohl bedingt, ist eine totale Vereinfachung. Ich bin davon überzeugt, dass nichts in der Welt ohne ein gewisses Pflichtgefühl läuft.

STANDARD: Als Schriftsteller betrachten Sie die Phänomene von der anderen Seite der Schwelle aus. Bedeuten Ihnen Schwellenrituale etwas?

Houellebecq: Bezüglich des Todes muss ich mich zu meiner Sympathie für alles, was die Leiche betrifft, bekennen. Ein Beispiel, woran ich gerade denke, ist das Meditieren von Buddhisten vor Leichen. Das ist gut für die mentale Gesundheit sowie eine Form, den Tod anzunehmen.

STANDARD: Schreiben Sie aus Angst vor dem Tod?

Houellebecq: Nein. In Elementarteilchen gehe ich sogar so weit, zu sagen, die Angst vor dem Tod sei inexistent. Sie werde durch die Angst vor dem Altern ersetzt. Beide Ängste sind authentisch, aber verschieden. Jedoch empfinde ich die Angst vor dem Altern erheblich stärker. Der körperliche Verfall ist unangenehm. Wenn man ab und zu daran denkt, dass man eines Tages sterben wird, kann man den Tod besser ertragen.

STANDARD: Auch Albert Camus befasste sich stark mit dem Tod. Warum ist Ihnen sein Roman "Der Fremde" lieber als Werke von Sartre?

Houellebecq: Keine Ahnung, ob ich mehr das Buch oder die Figur des Meursault liebe. Sie ist jedenfalls keine, die man vergisst. Aber ich muss gestehen: Ich kenne Camus nicht besonders gut. Was mir vor allem bekannt ist, hängt mit der tragischen Seite des hellen, bewegten Lichts zusammen. Ich stelle mir die Tragödie stets als helles Licht vor, und dem entspricht Der Fremde in besonderem Maße.

Sartre dringt nicht so sehr in die Tiefe. Will sagen, dahinter steht eine ziemlich nichts sagende Philosophie, in der sich diese so wesentliche Erfahrung des unmittelbaren Sinns der Tragödie nicht wiederfindet. Man darf einen wirklich guten Autor wie Camus nicht mit einem Clown wie Sartre verwechseln. Camus hatte Talent. Egal, worüber er nachdachte. In manchem war er sogar ein Genie. Der erste Satz "Heute ist Mama gestorben" aus dem Fremden ist ein Meisterstück. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.08.2005)