Foto: STANDARD/Stadtkino
Wien - Komplizenschaft findet ihre eigenen heimlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Die beiden jugendlichen Mädchen Amalia und Josefina flüstern unentwegt, während ihre Religionslehrerin gerade ganz ergriffen singt. Sie sabotieren diesen Gesang zu Gott, kommentieren ihn mit ihren Eingebungen, kichern. Die Kamera ist auf die Gesichter der Mädchen gerichtet, der Raum und damit auch die Sängerin sind zunächst unbestimmt. So beginnt Lucrezia Martels "La nina santa", und sie zeigt dabei gleich an, wessen Komplizin sie selbst ist.

Der zentrale Ort des Films ist ein Hotel, es liegt, wie schon das Haus in Martels viel beachtetem Debüt "La cienaga" (2001), im Umkreis der argentinischen Stadt Salta am Fuß der Anden. Wurde die Familienvilla dort zu einem Mikrokosmos stilisiert, an dem man die postkoloniale Befindlichkeit der Mittelklasse studieren konnte, so entwirft "La nina santa" um einiges unbeschwerter ein Panoptikum der Sehnsüchte und Begehrlichkeiten, das sich in eine Welt der Erwachsenen und eine der Jugend aufteilt.

Martel grundiert ihren Film mit einer diffusen Atmosphäre des Verlangens, das, im Falle der Mädchen, durch die katholischen Moralbezüge nur noch weiter geschürt wird. Bei einem Theremin-Konzert (mit dem das Motiv der magischen Berührung bereits subtil eingeführt wird) schmiegt sich ein Fremder auf unziemliche Weise an Amalia an. Sie wertet den sexuellen Übergriff nicht, sondern interpretiert ihn als Berufung. Der Mann entpuppt sich als Dr. Jano, Besucher eines Ärztekongresses, der im Hotel ihrer Mutter Helena abgehalten wird, in dem auch sie selbst lebt.

Der Film entwickelt dieses Geschehen allerdings auf sehr indirekte Weise. Unterschiedliche Begegnungen (auch zwischen Helena und Dr. Jano kommt es zu einer Annäherung) werden durch eine assoziative Montage zusammengeführt. Das Hotel wird dadurch zu einem Ort, in dem private Vorkommnisse ständig nahe dabei sind, publik zu werden - und stabile Verhältnisse dadurch in Bewegung geraten.

Haptische Räume

Martels formale Strategie ist eine der Auflösung von Übersicht. Sie steigt mit Nahaufnahmen in Szenen ein, fokussiert Details, betont aber auch die Bedeutung von Hintergründen. Das labyrinthische Innere des Hotels wird zu einem haptischen Raum: Amalia lässt die Hände immer wieder über alle Oberflächen gleiten oder schleicht sich ins Zimmer von Dr. Jano, um seine Habseligkeiten zu inspizieren. Körper werden oft in der Horizontale gezeigt, in Betten, auf Liegen, im Wasser des Swimmingpools, in dem sie träge treiben, aber die Blicke weiter unruhig bleiben.

Wie schon in "La cienaga" gelingt es Martel, dieser Atmosphäre des Müßiggangs eine eigentümliche Poesie zu verleihen. Während das Hotel mit einem Raumspray andauernd desinfiziert wird, beginnt man ob des nur mäßig unterdrückten Begehrens der Figuren auf ein Ereignis zu warten, das alles erschüttern wird - und etwa Amalia und ihre Mutter auseinander treibt.

Doch Martel unterläuft diese Wendung geschickt. Ein Wunder geschieht zwar - ein nackter Mann fällt vom Balkon und überlebt -, aber es bleibt bedeutungslos. Das obsessive Begehren Amalias und das weitaus aufgeklärtere ihrer Mutter gehören unterschiedlichen Ordnungen an. Es sind jene der Unschuld und der Erfahrung: La nina santa bewegt sich souverän in der Passage dazwischen, ohne sich am Schluss für eine der beiden zu entscheiden. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, Print, 30.8.2005)