Foto: G. Wasserbauer

Viel schnabulieren, aber von allem nur ein bisschen. Eine Menge Arbeit für Stäbchen gibt's bei Xiao Quan Sheng.

Eine Runde von Chinesen beim Essen zu beobachten ist eine schöne Studie in kultureller Diversität. Das Essen steht in der Mitte, in Schüsseln und Tellern anmutig dargeboten, worauf sich ein jeder mit seinen eigenen Stäbchen nimmt. Dann wird geschlürft und geschmatzt, von der Schale direkt in den Mund geschaufelt, an Knorpeln und Knochen genagt, an Krebsscheren genuckelt und jeglicher Abfall ganz nonchalant am Tisch, oder besser am Fußboden, entsorgt. Angeblich gelten wir Langnasen unter Chinesen auch deshalb als hoffnungslose Barbaren, weil wir nach Gebrauch des Schnäuztuchs (bei scharfem Essen immer wieder unvermeidlich) dieses tatsächlich wieder einstecken - noch dazu in den Hosensack, wo sonst nur Geld, Schlüssel und andere edle Dinge wohnen. Sie selbst kämen nie auf derart ungustiöse Ideen: ex und hopp, was sonst? Ab in den großen, allumfassenden Mülleimer, in den wir alle wandeln.

Gleichzeitig ist so ein chinesisches Essen ein herzerfrischender Ausdruck der Freude am gemeinsamen Speisen: Wir gehören irgendwie zusammen, schließlich essen wir aus derselben Schüssel. In China reicht der höfliche Gastgeber besondere Leckerbissen mit seinen Stäbchen an den Gast weiter.

Wenn alle alles essen, dann kann natürlich eine ganze Menge verschiedener Speisen mit unterschiedlichen Texturen, Aromen und Nuancen verdrückt werden: Viel essen, aber von allem nur ein bisschen. Zu viert, besser zu sechst oder acht sollte man schon sein, damit die runde chinesische Tafel sich entsprechend biegen kann unter den aufgeladenen Delikatessen.

Bei "Meister Xiao" in Wien-Währing, dem Restaurant des vormaligen Küchenchefs vom "Sichuan" im Donaupark (seit jeher eine gute Adresse für variantenreiche Küche), geht das jetzt besonders gut. Der wackelige Banketttisch schlingert bei voller Belegung zwar wie ein Kahn auf hoher See, was aus der Küche kommt, ist hingegen mehr als solide. Teilweise liest sich die Speisekarte freilich wortgleich mit jener von Meister Xiao Quan Shengs vorheriger Arbeitsstätte, dem "Sichuan".

"Teile und schlemme" - das Motto gilt schon bei den Vorspeisen. Etwa die kunstvoll geschnitzten, butterweichen und zimmerwarm servierten Tintenfische in Ingwersauce (Nr. 2), zart, pikant und rundum appetitanregend. Rindfleisch in Scheiben in pikanter Sauce (Nr. 4) ist ein kleiner Berg hauchdünn geschnittenen und kurz angerösteten, zuvor geschmorten Rindfleisches von beachtlicher Schärfe, alles andere als mager oder flachsenfrei, aber saftig, mürb und würzig. Den ganzen Haufen würde man kaum allein verputzen wollen, im Wettstreit mit anderen hungrigen Stäbchen macht er aber richtig Freude.

Der Glasnudelsalat in scharf-saurer Sauce (Nr. 7) ist frisch, knackig und kitzelt vor Schärfe im Ohr (!?), die mit Chili und Bergpfeffer gewürzten Rindfleischstreifen (Nr. 1) schauen einen anfangs zwar ein bissl tot und gräulich an, schmecken dann aber durchaus apart nach Sternanis. Vergleichsweise zurückhaltend sind die pikanten Nudeln nach Sichuan Art (Nr. 21) gewürzt, ein beinahe molliger Kontrapunkt zur Aromatik und Schärfe, die auf den anderen Tellern tobt. Bei den Hauptspeisen gilt (wie in anderen Sichuan-Küchen der Stadt) die mit Teeblättern geräucherte Ente (Nr. 59) als besondere Spezialität, hier bekommt man sie zartrosa, mit feinem Räucherduft und knusprig angegrillter Haut: köstlich. Dazu gibt es "Brötchen", die in ihrer germg'füllten Nacktheit an böhmische Knödel erinnern, und den üblichen Pflaumen-Jam, der, auf gut chinesisch, ein ziemlicher Powidl ist.

Zarte Lammkoteletts (Nr. 71), gewürzt mit Zi-Ran (einem kreuzkümmeligen "Spice Powder") werden knusprig gebraten und in einer hinreißenden Sauce mit Ingwer, Chili, Jungzwiebel geschwenkt, sehr vergnüglich. Das gebratene chinesische Gemüse mit Knoblauchsauce (Nr. 85) ist frischer Wasserspinat aus dem glühenden Wok, richtig smoky von der Stichflamme und, was sonst, mit kleinen roten Chilis durchsetzt.

"Geschmorte Dou-Fu in Form eines Sackes" (Nr. 82) schreien förmlich nach Bestellung und entpuppen sich tatsächlich als Säckchen von in Schichten gelegtem Tofu, konsistenzmäßig irgendwo zwischen frittiertem Omelett und Buttertoast in einer milden, gebundenen Sauce. Geschmacklich kein Heuler, eher Balsam für überhitzte Papillen.

Die geröstete Forelle mit Zwiebeln und Chili (Nr. 40) kommt, wie sich's gehört, im Ganzen zu Tisch, in dunkler, tiefaromatischer Sauce und überlebt die konzertierte Chopstick-Attacke nur wenige Minuten: Mit Gräten schmeckt es einfach besser. Wer die Wunden, die der Chili schlägt, nicht mit Tee oder Bier kühlen will, findet eine kleine, kluge Auswahl steirischer und niederösterreichischer Weißweine zu guten Preisen.

So ist Meister Xiao ein sauberes, einfaches Lokal, das von euro-asiatischen Familien und Pärchen besucht wird, die sicher nicht wegen des Interieurs herkommen. (Severin Corti/Der Standard/rondo/2/9/2005)