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Ganz genau wollte es keiner wissen: für Briefträger und Hochstapler-Legende Gert Postel die Via regia zu mehrfachen Doktorwürden. Der zufällig Enttarnte hat jetzt die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt beantragt. Immerhin ist er - und das ist belegbar - deren bekanntester Sohn. Wer sich bezaubern lassen will: www.gert-postel.de

Foto: Reuters/Jochen Eckel
Ein Porträt und eine versuchte Annäherung an ein Phänomen. Von Thomas Glavinic
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Wenn ein Schuster eine Offiziersuniform anzieht, des Weges kommende Soldaten unter sein Kommando nimmt, ein Rathaus besetzen und den Bürgermeister gefangen nehmen lässt, um mit der Stadtkasse zu verschwinden, so gefällt mir das. Erstens lässt es Uniformträger und Politiker nicht im günstigsten Licht erscheinen, zweitens ist es ein erfrischender Akt von Ungehorsam, und drittens hat da jemand ganz offensichtlich die Lächerlichkeit der Welt durchschaut. Von so harmlos Anarchischem wird einem selten berichtet, und wenn man davon hört, bedankt man sich grinsend beim Weltgeist.

Was aber, wenn ein Briefträger einen weißen Kittel anzieht, gefälschte Empfehlungen und Diplome vorlegt und sich zum Oberarzt einer psychiatrischen Klinik machen lässt, um Patienten zu behandeln, Gutachten zu schreiben und Fachvorträge vor "Kollegen" zu halten? Der Hauptmann von Köpenick war nur einen Tag lang im Amt, Gert Postel alias Dr. med. Dr. phil. Gert Uwe Postel ordinierte im sächsischen Zschadraß von 1995 an zwei Jahre lang. Der Schwindel flog auch nicht etwa deshalb auf, weil der falsche Nervenarzt als inkompetent ertappt worden wäre, sondern weil er zufällig erkannt wurde. Das male ich mir sehr hübsch aus: Man besucht irgendeinen armen Kerl, den es in die Psychiatrie verschlagen hat, und wer behandelt ihn? Der Postbote aus dem Ort, aus dem man stammt.

In seiner Autobiografie Doktorspiele erzählt Postel, der mit dem Kaufhaus-Erpresser Arno Funke alias "Dagobert" verglichen wird, aber wohl mehr mit Günter Wallraff gemeinsam hat, die schöne Geschichte von seinem Vortrag vor hundert Psychiatern, in dem er unwidersprochen die "bipolare Depression dritten Grades" einführte. Postels Wirken am Klinikum war so erfolgreich, dass ihm die Stelle des Chefarztes von Arnsdorff angetragen wurde. Er wurde auf eine Referentenstelle im Ministerium vorbereitet und vom zuständigen Minister zu einem Gespräch empfangen. Das alles gelang diesem Mann ohne akademische Vorbildung; er eignete sich das entsprechende Vokabular an, in Verbindung mit selbstsicher-arrogantem Auftreten genügte das. An einer "akuten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" litt, wer sich auffällig lebhaft gebärdete, und wer sich still verhielt, war mit einer "symptomschwachen autistischen Psychose" geschlagen.

Das alles finde ich höchst bemerkenswert, weniger verwunderlich. Als paranoider Phobiker und hysterischer Hypochonder bin ich schon bei Ärzten aus nahezu allen Fachgebieten gewesen, und auch mit einem Psychiater hatte ich ein seltsames Erlebnis. Mit sieben Jahren brachten mich meine Eltern wegen meiner ausufernden Fantasie und meiner unkonventionell gestalteten Nächte (ich wollte in den Schrank einsteigen oder aus dem Fenster klettern) zu einem Nervenarzt. Er gab meinem Vater den Rat, dafür zu sorgen, dass ich nicht zu oft mit meinem "Wipfel spiele". Außerdem verschrieb er Beruhigungstabletten. Die musste ich zum Glück nicht nehmen, weil meinen Eltern Zweifel an der Kompetenz des Doktors gekommen waren (der vielen Kruzifixe in der Praxis wegen). Zufälligerweise hatten sie das richtige Gespür. Wenig später stellte sich heraus, dass der Arzt mit Pharmafirmen zusammenarbeitete und sinnlos teure Medikamente verschrieb, er musste deswegen einige Monate in der Justizanstalt Graz-Jakomini behandeln.

Über Psychiater wird mit Hingabe gescherzt. Es ist ein Gemeinplatz, dass derjenige, der über die geistige Gesundheit seiner Mitmenschen befinden darf, gern selbst als ein wenig beschattet dargestellt wird. In Wahrheit gibt es unter den Psychiatern vermutlich nicht mehr Stümper als unter den Fußballern, den Anstreichern und den Callcenter-Mitarbeitern. Und wohl auch – horribile dictu! – unter den gewöhnlichen Ärzten. Eine Erkenntnis, die mir das Leben nicht gerade erleichtert.

Seit Jahren hoffe ich darauf, mit einem Mediziner Freundschaft zu schließen, schon weil ich auf diese Weise meiner Iatrophobie gegensteuern will. Aber kein Arzt, keine Ärztin will mein Freund sein. Zumindest lerne ich privat keine kennen. Und wie ich mein Glück einschätze, wäre es dann ohnehin nur ein verkleideter Elektriker oder Tapezierer. So etwas kommt häufiger vor, als man glaubt. Wer hat denn schon einmal das Diplom seines Zahnarztes gesehen? Wenn man bedenkt, wie oft einem von Schlächtern berichtet wird, die ihren Patienten mit Bohrer und Zange zusetzen, muss man da nicht argwöhnen, dass da der eine oder andere einem Nebenjob nachgeht, für den er nicht korrekt ausgebildet wurde?

Ich bin ein grundsätzlich misstrauischer Mensch. Wenn mich eine nette Dame anruft, um mich in Kenntnis zu setzen, dass mir eine literarische Auszeichnung zugesprochen wurde, vermute ich zunächst, dass da einer meiner Freunde mit verstellter Stimme spricht. Ich lasse mir die Nummer geben und rufe zurück. Und als Skeptiker frage ich mich, wie das möglich ist, wie können Psychiater einem Briefträger die Kollegenschaft abnehmen?

Als Postel von seinem Chefarzt gefragt wurde, worüber er seine Doktorarbeit geschrieben habe, antwortete er: "Über die Pseudologia phantastica am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann." Eine andere Arbeit habe sich mit "kognitiv induzierten Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung" befasst. Wieso nur wird da niemand aufmerksam?

Ich denke, es hat zwei Gründe: Zum einen trauen sich schon in der Schule die meisten nicht aufzuzeigen, wenn sie etwas nicht begreifen. Wer nachfragt, ist ein Dummkopf. Er kapiert nichts, sonst würde er nicht nachfragen. Niemals nachfragen, das lernen wir schon in der Schule, und später, wenn wir ein Fremdwort nicht verstehen, tun wir so, als würden wir es kennen.

Wir dürfen uns niemals eine Blöße geben. Nachfragen bedeutet, Schwäche zu zeigen. Und gerade wenn man viel Renommee, also viel zu verlieren hat, als Psychiater zum Beispiel, will man sich keine Blöße geben.

Zum Zweiten hat es wohl damit zu tun, dass wir, wie Postel selbst richtig sagt, nur da "prüfen und kontrollieren, wo wir zweifeln". Selbst wenn einem von Postels Mitarbeitern einmal etwas seltsam vorgekommen sein mag an diesem unnahbaren Chefarzt: Hätte er nachfragen sollen, ob der Herr Kollege zufällig gefälschte Zeugnisse vorgelegt hat? Außerdem, wer zweifelt mitunter denn nicht? Ich habe schon so viele unfähige Handwerker, Architekten, Beamte getroffen, deren Verhalten durchaus die Frage nach dem Meisterbrief, dem Diplom, dem Anstellungsvertrag zugelassen hätte. Aber wer fragt ernsthaft nach? Wir fragen nie nach. Wir glauben, was wir sehen, weil wir an die Normalität glauben und weil nichts die Normalität stören darf.

Als eine Berliner Richterin 1994 von einem ihr unbekannten Hamburger Richter angerufen und aufgefordert wurde, das Verfahren wegen Ladendiebstahls gegen einen gewissen Postel einzustellen und die Akten ihm zu schicken, da er diesen Mann schon in Hamburg verurteilt habe, fragte sie auch nicht nach. Bei den Richtern in Hamburg entschuldigte sich ein Kollege aus Berlin telefonisch, einige Akten einen Gert Postel betreffend seien als Irrläufer zu ihnen unterwegs, man möge sie einfach in den Schredder stecken. Man fragte nicht nach. Die Akten wanderten in den Papierkorb. Das Verfahren wurde eingestellt. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 10./11. 9. 2005)