"Witterungsgenau" – so Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft (1983) – habe Thomas Mann in seinen Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1922 in einer Frühfassung erschienen) "die politisch-symbolische Dimension des Hochstaplerphänomens in den Blick bekommen". Auch von Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick (1933) ließe sich Ähnliches vermelden: Die "alltagsontologische Grenze zwischen Spiel und Ernst" sei verwischt und der Typ des Hochstaplers zur repräsentativen Figur der Weimarer Republik geworden.
Mit einem Felix Krull kann die österreichische Literatur dieses Zeitraums nicht aufwarten, und doch ist ein Blick auf diese für den Gesamtkontext des Phänomens nicht unergiebig. Man muss nur einen Schritt zurück tun: Das österreichische Biedermeier bietet aufschlussreiche Präfigurationen des Typs. Diese Gestalten werden von dem Schein, dem sie ihre Wirkung verdanken, manipuliert, sodass sie immer den Schein manipulieren müssen, um jene bei dessen Verschwinden aufrechtzuerhalten. Man denke nur an den Rustan in Grillparzers Der Traum ein Leben (1840), der fälschlich für einen Drachentöter gehalten wird, die Rolle auch mehr oder weniger zögernd übernimmt und ihr Gefangener bleibt, sich in Verbrechen verstrickt und am Ende doch froh ist, dass alles nur ein Traum war.
Ähnlich verläuft auch der phänomenale Aufstieg des Titus Feuerfuchs in Nestroys Talisman: Auch dieser ist zunächst ein Hochstapler wider Willen, doch fügt er sich nur zu willig in die Rolle: Er lebt von dem falschen Schein, und der ihn zu diesem Aufstieg verhilft, hat Anteil an dieser Scheinproduktion. Monsieur Marquis heißt nur Marquis, er ist es nicht, er ist Friseur, aber er versteht sich durch die Herstellung von Perücken auf die Produktion von Schein.
Der wegen seiner roten Haare verachtete Titus kann mit unterschiedlichen Perücken Karriere bei drei Frauen machen, der Gärtnerin, der Kammerfrau und schließlich bei der Dichterin, der Frau von Cypressenburg. Er wird zusehends verwegener, ja zuletzt übermütig. Schließlich ereilt ihn das Schicksal durch die Rache des vermeintlichen Marquis, der ihn wieder in der ursprünglichen Haartracht zur tristen Ausgangssituation zurückführt.
Doch die rothaarige Salome Pockerl steht redlich zu ihm, und mit geradezu klassenkämpferischer Verve entschließt sich Titus zur Allianz mit dieser Außenseiterin. Da er eine gute Erbschaft in Aussicht hat, wollen ihn die Gärtnerin und die Kammerfrau trotz seines Defizits haben – doch er hat nun genug von jenen, denen es nur um Spekulation zu tun ist. Titus ist ein Meister der Sprache, und körperliche Defizite vermag diese zu kompensieren. Da er zur Schriftstellerin kommt, verrät er sein Programm der gekonnten Hochstapelei mit der Sprache: "Ich steh' jetzt einer Schriftstellerin gegenüber, da thun's die Alltagsworte nicht, da heißt's jeder Red' a Fey'rtagsgwandl anziehen."
Er ist der Dilettant par excellence, er besitze einen "Anflug von Geographie, einen Schimmer von Geschichte, eine Ahnung von Philosophie, einen Schein von Jurisprudenz, einen Anstrich von Chirurgie, und einen Vorgeschmack von Medizin". Die tiefsinnige Antwort der Frau von Cypressenburg: "Er hat sehr viel, aber nichts gründlich gelernt, darin besteht die Genialität."
In einem Zeitalter, da die Spezialisierung sich intensiviert, wird die Vortäuschung von Genialität und Universalität zum Zeichen des Hochstaplers, das sich einer gewissen Attraktivität erfreuen kann, da hier einer das volle Leben und nicht die spröde Wissenschaft zu verkörpern scheint. Die Hochstapler verdanken ihre Karriere nicht selten einem (freilich nicht unbegründeten) antiakademischen Ressentiment.
Titus ist auf der einen Seite der Typus des Opportunisten, der schamlos und situationsmächtig zugleich die Schwächen der anderen nutzt, auf der anderen Seite vermag er auch, die Schwächen jener zu entlarven, die ihn für ihre Interessen nutzen möchten, und es ist keineswegs abwegig, in diesem Helden Nestroys jene sozialen und psychischen Komponenten als wirksam zu erkennen, die später den Diktatoren und Machtmenschen zukamen.
In diesem Sinne ist Titus bereits ein Vorgriff auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, da die Hochstapler allenthalben Fortune machten. Auch wenn sie selten so eine zentrale Rolle spielen wie in Manns Schelmenroman und nur selten so wie Krull zu Sympathieträgern werden, so sind sie doch in den instabilen Verhältnissen der Inflationszeit nach 1920 ständig präsent; diese ist das Biotop, in ihm gedeihen die bis zum Überdruss eingesetzten Klischeefiguren, die das Liebesglück der mehrfach schon sitzen gebliebenen Schwester des Helden vollenden helfen.
Sie sind in den Trivialromanen und in der Operette beheimatet, und der Alfred in Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald ist eines der bekanntesten Exemplare. Das Konzept der Hochstapelei als aufmüpfiges ästhetisches Programm erfuhr seine Nobilitierung in Walter Serners Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen (1927), der stark überarbeiteten Fassung von Letzte Lockerung manifest dada (1920). Den Aspekt der Hochstapelei hat man in der Diskussion dieses meist als Programmschrift des Dadaismus gefeierten Textes gerne übersehen. Dabei sind in der zweiten Fassung die Spuren des Dada getilgt; statt dada gilt rasta. Empfohlen wird, ein exquisites Diner zu sich zu nehmen, um "Glücksritter seines Leibes zu werden und des Lebens".
Im Hochstapler realisiert sich offenkundig die einzig praktikable Alternative zu den spießigen Zeitgenossen. Und wieder ist es der Schein, den er etabliert und mit dessen Hilfe er zu überleben hofft. Satz 55 im Zweiten Teil der Letzten Lockerung verweist zurück auf Nestroys Scheinproduzenten Titus: "Dein größter Vorteil? Nicht zu sein, was du scheinst, ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist."
Walter Serner, 1889 in Karlsbad geboren, wurde 1942 im Konzentrationslage Theresienstadt ermordet: "Ein Flaneur, der ins Gas gehen musste, die größte denkbare Absurdität! Der Tod verhindert, dass dem Dandy noch etwas bleibt, das er einzusetzen oder dagegenzusetzen hätte." (Elfriede Jelinek) In diesem Kontext verliert der anarchische Gestus des Dandys und auch des ihm eng verwandten Hochstaplers seine Unverbindlichkeit. Er ist der Rolle des Bürgerschrecks mehr als gerecht geworden, er hat jene, die den Ernst des Spieles nicht begriffen, ihrer bedenklichen Unbedarftheit überführt und gezeigt, was die Sprache in ihrer Ambivalenz vermag: Einerseits erzeugt sie den Schein, dem zu erliegen wir nicht müde werden, andererseits vermag sie mit den Volten und Arabesken hochstaplerischer Rede zu befreien.