Wenn Simon Wiesenthal in den letzten Jahren seines Lebens mehr Ehrungen als jeder andere Österreicher erhalten hat und sein Tod weltweit betrauert wird, dann liegt das vor allem daran, dass er zur Symbolfigur für ein zentrales moralisches und politisches Projekt unserer Zeit geworden ist - der Verfolgung von Kriegsverbrechen als notwendiger Schritt zur Konfliktlösung.

Der Grundstein für diese Entwicklung wurde bereits beim Nürnberger Prozess und der UNO-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord aus dem Jahr 1948. Doch Wiesenthal ging im seinem Wiener Dokumentationszentrum über die Frage der politischen Verantwortung hinaus. Durch akribische Recherchearbeit stellte er die Beteiligung einzelner Personen in den Mittelpunkt und zerstörte damit die Mär der "kleinen Rädchen" und reinen Befehlsempfänger, die für alle verübten Verbrechen eigentlich nichts konnten.

Dazu kam Wiesenthals Überzeugung, dass Kriegsverbrecher unabhängig von den jeweiligen politischen Umständen ausgeforscht und angeklagt werden müssen. In den Fünfzigerjahren setzte er jene Aufklärungsarbeit fort, die Amerikaner und Briten nach 1945 begonnen hatten, aber mit Ausbruch des Kalten Krieges einstellten, weil ihnen eine breite antikommunistische Front wichtiger war als die Aufarbeitung der Vergangenheit. Selbst in Israel genoss, mit der Ausnahme des Eichmann-Prozesses, die Verfolgung von NS-Verbrechen lange Zeit keine Priorität. In Europa wurde Wiesenthals Arbeit von Justiz und Regierungen zumeist ignoriert.

Die Wiederentdeckung des Holocaust als identitätsstiftendes Trauma für Amerikas Judentum machte ihn dort prominent - vor allem durch das 1977 gegründete Simon Wiesenthal Center. Aber es ist kein Zufall, dass sich seine Botschaft erst nach Ende des Kalten Kriegs zur weltpolitischen Norm entwickelte.

Die Kriegsverbrechertribunale in Exjugoslawien und in Ruanda wurden zum zentralen Bestandteil des jeweiligen Friedensprozesses. Nicht nur Slobodan Milosevic, sondern auch die Männer, die vor Ort die konkreten Verbrechen begangen (ob Serben, Kroaten und Bosnier), werden in Den Haag angeklagt, genauso wie es Wiesenthal für die Schergen des NS-Regimes vorsah.

Ebenso gehört der 1998 gegründete Internationale Strafgerichtshof zu Wiesenthals Vermächtnis. Wie gefährlich es ist, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdrängt und geleugnet werden, zeigt hingegen der Völkermord an den Armeniern, der die politische Kultur der Türkei auch 90 Jahre später noch vergiftet.

Doch in Wiesenthals Arbeit steckte immer eine gewisse Ambivalenz, die bis heute weiterwirkt. Er strebte nach Recht, aber auch nach Versöhnung - selbst wenn das bedeutete, dass manches geringeres Unrecht ungesühnt bleiben musste. Die südafrikanische Wahrheitskommission, die den Handlangern des Apartheidregimes Amnestie zusicherte, wenn sie ein volles Geständnis ablieferten, war ganz in Wiesenthals Sinne.

Unbefriedigender - wenn auch aus pragmatischen Gründen verständlich - ist der Zugang der ehemaligen Ostblockstaaten, in denen meist gar nicht nach individueller Verantwortung für Kollaboration und Verbrechen gefragt wird. Aber was hätte Wiesenthal über den Appell der Regierung Ugandas an den Internationalen Strafgerichtshof gesagt, die Verbrechen der "Lord Resistance Army" nicht zu untersuchen, weil dies den Friedensprozess gefährde?

Seine Antwort wäre wohl gewesen, dass die Suche nach Wahrheit nie falsch sein konnte. Die Bestrafung von Kriegsverbrechern überließ er der Justiz. Als Aufgabe seines Dokumentationszentrum sah er vor allem, die Fakten dem Verschweigen und Vergessen zu entreißen.

Für Wiesenthal konnte es nie einen "Schlussstrich" geben, solange die Täter am Leben waren. Aber seine akribische Detektivarbeit war gleichzeitig der beste Schutz vor jeder kollektiven Schuldzuweisung. Deshalb hatte Österreich besonderen Grund, ihm dankbar zu sein. (Eric Frey, DER STANDARD, Print, 21.09.2005)