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Die ersten Worte im neuen Haus kamen von Friedrich Schiller. Das Burgtheater öffnete 1955 mit dem Prolog zu Schillers Wallensteins Lager seine Pforten. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, mit Schiller eine allgemeine Geschichtsbetrachtung zu unternehmen, die nach dem Sinn der Beschäftigung mit der Geschichte fragt. Mit dieser Frage sind wir im Zentrum von Schillers Geschichtsphilosophie, der in seiner akademischen Antrittsvorlesung das Problem erörterte, welchen Sinn der Beschäftigung mit der Geschichte verliehen werden könne. Schiller hielt seine Antrittsvorlesung im Mai 1789 in Jena und publizierte sie unter dem Titel "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" ein halbes Jahr später in Wielands "Teutschem Merkur".

Schiller unterscheidet in diesem Traktat zwischen dem Brotgelehrten und dem philosophischen Kopf. Dem Brotgelehrten geht es einzig und allein darum, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann. Der Brotgelehrte wird die Wissenschaften von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, abtrennen. Vollkommen anders verhält sich der philosophische Kopf. Er liebt die Wahrheit immer mehr als sein System, statt zu trennen, vereinigt er. Die Aufgabe des philosophischen Kopfes ist es, das Aggregat von Bruchstücken, das die Weltgeschichte ausmacht, durch künstliche Verbindungsglieder zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen zu verketten. Der Mensch wird durch die Geschichtsbetrachtung der vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks enthoben und daran gewöhnt, sich mit der Vergangenheit in Verbindung zu bringen, um mit seinen Schlüssen in die Zukunft vorauszueilen. Das Studium der Weltgeschichte verbirgt die engen Grenzen von Geburt und Tod und breitet das Dasein des Menschen in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. Diese Fragen haben Schiller sehr bei der Niederschrift von Don Carlos beschäftigt.

Im Theater bilden die Geister vergangener Rollen und die Erinnerung an frühere Inszenierungen ein eigenes, theatrales Gedächtnis. Am Burgtheater ist, wie Klaus Bachler dies in seinem Essay ausführt, dieses Gedächtnis besonders stark ausgeprägt.

In der folgenden Aufführungsanalyse von Don Carlos-Inszenierungen beziehe ich mich auf die zentrale Überlegung von Marvin Carlsons Studie "The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine" (2001), um anhand des Don Carlos die Erinnerungsmaschine des Burgtheaters zu erforschen. Am Burgtheater ist man bei Klassikerinszenierungen immer mit einer reichen Vergangenheit konfrontiert, zu der man eine Position beziehen muss. Bei Andrea Breths Don Carlos-Inszenierung von 2004 wird sofort die Erinnerung an den Carlos von Oskar Werner (1955) und Klaus Maria Brandauer (1972) wachgerufen. Der Carlos des Philipp Hauß wird an diesen früheren Rolleninterpretationen gemessen.

Mit der Wiedereröffnung des Burgtheaters nach der Kriegszerstörung am 14. Oktober 1955 wurde in der zweiten Eröffnungspremiere, nach Adolf Rotts König Ottokars Glück und Ende, Oskar Werner in seiner Don-Carlos-Gestaltung als der neue Star gefeiert. Nach der Feier des österreichischen Staatsvertrags, den Leopold Figl den Österreicherinnen und Österreichern Mitte Mai 1955 stolz vom Balkon des Belvedere präsentierte, öffnete fünf Monate später das Burgtheater wieder seine Pforten. Oskar Werner wurde von Herbert von Karajan wegen der musikalischen Kadenz seiner Sprache gerühmt, und Hans Moser sah in diesem Schauspieler einfach ein Wunderkind. Oskar Werner reiste zu Ostern 1955, noch vor Probenbeginn, nach Madrid und traf dort Fred Liewehr, der den Posa spielen sollte und sich mit einer Besichtigung des Escorial auf den Don Carlos vorbereiten wollte. Für Oskar Werner war Don Carlos in Wahrheit ein Kretin, doch Schiller schuf mit dieser Figur einen zweiten Hamlet. Für Oskar Werner war die Zusammenarbeit mit Werner Krauß, einem Genie im Sinne Schopenhauers und Nietzsches, das das wahre Wesen der Dinge und des Daseins erfasst, die Erfüllung eines Traums. So glücklich, wie er während der Don Carlos-Proben mit Werner Krauß war, hat Oskar Werner bekannt, sei er nie wieder gewesen.

Der Kritiker Oskar Maurus Fontana schrieb, dass Oskar Werner "in Sprache und Bewegung schillersches Melos und den Schmelz der Jugend" hat: "Man glaubt ihm den Gezeichneten und das Genie." Für die Österreichische Neue Tageszeitung ließ Oskar Werner in der Inszenierung von Josef Gielen die Zuschauer einen Carlos fühlen, der "gertenschlank und Hamlet-nahe" ist. Oskar Werners Carlos wurde mit der neu gewonnenen Freiheit Österreichs in Verbindung gebracht: "Im Ausdruck und in der innigen Beschwörung des Herzens findet er gleicherweise den Ton, der uns sofort für diese Gestalt gewinnt, der uns alle einbezieht in das schwere Geschick des Infanten und seiner unglückseligen Liebe zur eigenen Stiefmutter, seines Schwankens zwischen Persönlichstem und völkerbefreiender Staatsaufgabe." (Die Presse, 25. 10. 1955).

Hans Weigel beschwor die Einheit der Generationen, die nun auf der Bühne des Burgtheaters Wirklichkeit wurde. Werner Krauß spielte den König Philipp II. Oskar Werners Don Carlos "ist so herrlich knabenhaft und so erschütternd gefährdet, er hat alle Wirkung eines großen Tragöden ohne eine einzige seiner Unarten, er ist der beglückende Gewinn der Vorstellung. Werner Krauß und er scheinen wirklich Vater und Sohn auch in der meisterlichen Art, Verse im klassischen Stil und doch im neuen Geist zu sprechen." Josef Gielens Inszenierung wurde von Weigel als eine Interpretation gesehen, der es um die große Unerfülltheit des Einzelnen geht. Alle fünf Helden sehnen sich nach einem Menschen, doch das Private muss an der Mechanik der Macht scheitern. Oskar Werner ist in dieser Sicht ein Gefangener seines eigenen Dämons, und Werner Krauß betonte die Tragödie des einsamen, alten Mannes als die der politischen Macht. Oskar Werners Carlos war seinem königlichen Vater Krauß ebenbürtig, "dem großen Einsamen der deutschen Bühne". Da Gielen allen Mut aufbrachte, das gewaltige Drama von den Schauspielern her und ihnen zuliebe zu inszenieren, schuf er eine Inszenierung in bester Burgtheatertradition. Zu Beginn der Zweiten Republik wurde mit Josef Gielens Don Carlos die theatrale Manifestation der wiedergewonnenen Freiheit Österreich proklamiert.

Bei der nächsten Don Carlos-Inszenierung am Burgtheater spielte 1972 Klaus Maria Brandauer die Titelrolle, und wieder wurde ein Star geboren. Otto Schenk führte Regie, Klausjürgen Wussow spielte den Marquis von Posa, Elisabeth Orth die Prinzessin Eboli, und Erika Pluhar die Königin. Otto Schenk als Regisseur verlegte Schillers Drama vom Pathetischen ins Private, von der feierlichen Staatsaktion in die Familienatmosphäre. Hilde Spiel schrieb, der Vorzug dieser Inszenierung liege "im geduldigen Aufspüren aller Motivationen, der gedanklichen und der emotionellen, in den klar herauspräparierten Beziehungen zwischen den fünf Leuten, auf denen die Hauptaktion ruht". Die weit reichenden ideologisch-politischen Bezüge – Flandern, die Niederlage der Armada, die Palastintrige um König Philipps Gunst – kommen bei Schenk zu kurz, mit der einen Ausnahme des Marquis-Posa-Monologs. Ihn durfte der Darsteller mit aller üblichen Emphase deklamieren, und hier erhob sich nach dem Wort "Gedankenfreiheit" spontaner Applaus, "als hätte Piero Cappuccilli seine Arie triumphal zu Ende gebracht". (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 11. 1972).

Brandauer war ein Carlos, der nach der Revolution von '68 im von politischen Entwicklungen abgeschotteten Wien die Freiheit der Liebe proklamierte und damit ein neues Lebensgefühl verkörperte. Nach den langen Jahren der Restauration bahnte Brandauer der jüngeren Generation (in 47 Aufführungen bis 1976) mit einem von hoher Emotionalität geprägten Carlos ein neues Selbstverständnis.

In Andrea Breths vierstündigem Don Carlos breitet sich von Beginn an eine Atmosphäre des Grauens aus. Don Carlos ist in dem größten Reich der Welt ein Verlorener, der gegen die Übermacht des Vaters keine Chance hat. Eine seltsame Dämpfung, die mit nervösen Ausbrüchen einhergeht, bestimmt seine psychische Disposition. Es ist eine doppelte Dämpfung. Der Vater hat dem Sohn aus Gründen des Machterhalts Elisabeth von Valois weggenommen, der Herrscher braucht in seiner monströsen Einsamkeit die ständige Vergewisserung, dass er noch lange die Geschicke seines Reiches in seinen Händen hält.

Von diesem Zentrum der Macht breitet sich die Zerstörung sukzessive aus. Sie erfasst den Körper von Philipp II., seine Physiognomie, seine Art zu blicken, und sie erfasst die nächsten Mitarbeiter. Das System Philipp II. bringt Zerstörung und Tod. So treibt der Kadaver eines Pferdes durch den Innenraum des Palastes. Die Zerstörung überträgt sich von den Menschen auf die Tiere und die Natur. An eine freiwillige Abtretung von Macht ist überhaupt nicht zu denken. Die erschreckende Leere dieses Lebens spürt Philipp II. sehr wohl. Um diese Empfindungen zu bekämpfen, inszeniert er sadomasochistische Spiele, in denen die Macht ihre Entsprechung in einem sexuellen Planspiel findet. Die Figuren in diesem Spiel müssen dem Herrscher stets zu Diensten sein. Auch Lust ist zu einem erotischen Despotismus verkommen.

Der Königspalast ist ein Ort der Macht, mit vielen Ecken und Winkeln (Bühne: Martin Zehetgruber). Es gibt in diesem Labyrinth keinen Raum, in dem Carlos ein Gefühl von Geborgenheit spüren könnte. Carlos ist in diesen Räumen einer ständigen Observation preisgegeben. Die Beschattung geschieht über eine Putzfrau, gespielt von Elisabeth Orth, die beim Saubermachen jede Veränderung im Herrscherhaus im Blick hat.

Weder Don Carlos (Philipp Hauß) noch Posa (Denis Petkovic) stehen im Zentrum, sondern Philipp II. (Sven-Eric Bechtolf), der mit dem Großinquisitor (Elisabeth Orth) zur eiskalten Machtpolitik zurückfindet. Nicht Carlos gerät unter die Macht von Posa. Die beiden Jugendfreunde, deren Nähe sich in so kurzer Zeit zu einem Abgrund des Misstrauens öffnet, geraten unter die Macht der Herrschenden. Die tausend Augen, die besoldet sind, um über Don Carlos zu wachen, haben ihre Aufgabe erfüllt. Die oberste Verhaltensnorm in diesem Überwachungsstaat spricht der Großinquisitor gleichsam als letztes Wort aus: "Das Seil, an dem / Er flatterte, war lang, doch unzerreißbar."

Zwischen den Generationen gibt es keine Verbundenheit. Es herrscht eine eisige Kälte, die keinen jungen Menschen zum Erwachsenen heranreifen lässt. Für Andrea Breth gehören Carlos und Posa zur "lost generation", die in den Planspielen der Politik und der Kirche einfach erledigt wird. Carlos und Posa mögen sich an ihren Freiheitsideen berauschen, aber zum Zug kommen sie nicht. Die jugendlichen Revolutionäre haben in Breths Inszenierung keine Kraft, die Welt von Philipp II. aus den Angeln zu heben. Sie spüren, dass sie auf Jahre hinaus dazu verdammt sind, unter der Herrschaft der Elterngeneration zu bleiben.

In drei Don Carlos-Inszenierungen hat das Burgtheater im Zeitraum von 1955 bis 2005 die Auseinandersetzung über die Gedankenfreiheit und die Unterordnung unter die Entscheidungen der weltlichen und kirchlichen Machthaber geführt. In Andrea Breths Inszenierung ist Philipp II. kein Vater, der bei Don Carlos und Posa eine Hoffnung auf die Überbrückung der Kluft zwischen den Generationen weckt. Die Utopie der Gedankenfreiheit scheint in Breths Inszenierung nur ex negativo auf. (DER STANDARD, Album, Printausgabe vom 24./25.9.2009)