Foto: Richard Reames

Gestaltung, die man bewässern muss und die in einer schnelllebigen Zeit immer mehr Anhänger findet.

Foto: Richard Reames

Richard Reames aus Oregon ist beunruhigt. Oder sagen wir lieber: alarmiert. Schuld daran ist Mr. Wu an der anderen Küste des Pazifiks - dabei gilt Herr Wu an sich als Reames' jüngste Entdeckung. Der erste Arboskulpteur in China! "Es ist immer ein wenig aufregend, neue Arboskulpteure zu entdecken", schreibt Richard Reames in seinem Rundmail, "schon gar, wenn sie aus China stammen." Doch dann setzen auch schon die Klagen ein: Mr. Wu aus China will sein Werk patentieren lassen. Dabei handelt es sich doch um das normalste Ding der Arboskulpteur-Welt: einen selbst gewachsenen Stuhl.

Genau dieser Unstand beruhigt Richard Reames allerdings auch. "China ist im Kapitalismusfieber und wohl sehr hungrig auf Patente", schreibt er weiter an seine Interessengemeinde. "Und ich bezweifle, dass Mr. Wu oder Chinas Patentämter von John Krubsacks gewachsenem Stuhl aus dem Jahre 1908 gehört haben." Richtig. Das wäre in der Tat ein wenig überraschend. Dabei ist John Krubsack ein durchaus klingender Name im weiten Kreis der Arboskulpteure - jener über den ganzen Erdball verstreuten Gemeinschaft von Leuten, die sich für gutes Design noch Zeit nehmen - und ihm beim Wachsen zusehen.

Bekannt ist freilich auch Richard Reames...

... der bärtige Mann aus Oregon, Autor des richtungsweisenden Bandes "How to grow a chair" (1995), und nun, brandneu erschienen, auch noch von "Arborsculpture - Solutions for a Small Planet". Der Samen, den John Krubsack streute - keiner lässt ihn mit größerer Inbrunst gedeihen als der studierte Botaniker und Gärtner, der in seinem zweistöckigen Einfamilien-Holzhaus - es ruht auf vier leider abgestorbenen Stämmen - die Fangemeinde via Internet und mit viel Begeisterung für die Sache am Laufenden hält. Als Arbosculpture-Lektor ist Richard aufgetreten, zuerst in Alaska und dann in England. Als Botschafter und Forschender seiner botanischen Kunst hat er sich in zahlreichen Recherchen und Referaten bewährt und sich mit einem Beitrag zur avantgardistischen Londoner "100% Design"-Exhibition zuletzt sogar in Entwerferkreisen einen Namen gemacht.

Immerhin tauchte Reames als erster Mann der Designszene mit einem Tischchen und Sesseln auf, die man regelmäßig gießen muss, weil sie, statt auf dem Parkett zu stehen, aus einem normalen Blumentopf wachsen. Das war avantgardistischer Humus genug und fiel sogar am Rande eines kleingekochten Biosphere-Trends auf, der renommierte Entwerfer wie Matali Crasset mit Lebendpflanzen experimentieren ließ, eine andere Französin, nämlich Séverine Szymanski, zum überwucherten Raumtrenner "Brike" inspirierte und die Italienerin Alessandra Baldereschi Wälder auslichten machte: Immerhin verarbeitet Letztere ja eigenhändig gesammeltes Moos und Blätter mithilfe von Latex zu Bezügen für individuelle Sitzmöbel und Teppiche.

Und doch ist es von all diesen Neobio-Ansätzen noch immer ein großer Sprung zu Reames' lebendigen Design-auswüchsen. Okulation und Pfropfen wurden die Stilmittel seiner Kunst genannt, aber auch botanische Architektur, Biotecture, Permaculture oder einfach nur: weird.

Nach hunderten von langjährigen Experimenten...

... die Reames auf seinem eigenen, amerikanischen Pioniergrund und -boden in Williams, Oregon, mittlerweile durchgeführt hat, kann er heute denn auch zu Recht behaupten: Übernehme Arboskulptur-Aufträge weltweit - pflanze Tische, Stühle, Zäune, Pavillons, lebende Klassenzimmer, Tunnel, Bögen, abstrakte Formen (auch mit gefärbtem, eingewachsenem Fensterglas) - praktische jede Form ist möglich. Die Baum-Männchen und zu Peace-Zeichen gewachsenen Stämmchen (normalerweise wird so etwas lediglich in die Rinde eingeschnitzt) seiner Referenzmappe beweisen dies - ebenso wie noch komplizierteres Pflanzenwachstum: Einen dreidimensionalen Würfel hat der Mann aus einem Stamm gepflanzt, und Bänke samt geschwungenen, zu Schleifen verformten Lehnen, die perfekt in jeden Hobbit-Garten passen würden und dabei entfernt an die florale Spielart des Jugendstils erinnern.

Die Suche nach dem absoluten Gartenmöbel hat Tradition - auch hier ist Richard Reames unermüdlich tätig: Immer neue historische Beispiele von Arboskulpturen entdeckte er in vielen Kulturen und Ländern, auch davon erzählt sein neues Buch. John Krubsack und der Baumstuhl von 1908 wären ein Beispiel dafür. Weit wichtiger, ja als eigentlicher Nestor der Arbogeschichte firmiert hingegen ein gewisser Axel Erlandson, der mit der Aufzucht von Bohnen in Turlock, Central California, relativ klein angefangen hatte, sich dann aber noch beachtlich steigern konnte: 1947 eröffnete er im ebenfalls kalifornischen Scotts Valley bereits seinen "Tree Circus", bewusst an einer von Touristen frequentierten Route gelegen. Die bereits Jahre vorher in seinem eigenen Garten gezogenen Platanen-Spiralen und Diamantgitter-Strukturen wurden dabei kurzerhand umgepflanzt und markierten bald schon ein beliebtes Ausflugsziel in der Nachkriegsära. Wurde Erlandson von den Besuchern gefragt, wie er es schaffe, skurrile Dinge wie den frei stehenden Leiterbaum wachsen zu lassen, so lautete seine Antwort beständig: "Ich spreche mit ihm." Das tun vielleicht auch Leute wie Richard Reames und andere Arboskulpteure in Japan, England, Deutschland, Australien - und nun auch China.

Für Gesprächsstoff sollte die eigenwillige Disziplin...

... aber auch in diesem Jahr sorgen, als Besucher aus aller Welt im Rahmen der "Expo 2005 Aichi Japan" bei Nagoya über Strukturen stolperten, die "The Asian Wall Street Journal" vorsorglich zum authentischsten Pavillon der Expo erklärt hat. Dem Thema "Weisheit der Natur - Errichtung einer neuen Zivilisation in Harmonie mit den Kräften der Natur" wurde das "Growing Village" des kanadischen Arboskulpteurs John Gathright nämlich besonders gerecht. Neben langsam zurechtwachsenden Pavillons, Baumschaukeln (mit Astsitz natürlich) und diversen weiteren Schnörkeln geht man hier aber auch der inneren Qualität der Biotecture auf den Grund.

Um gärtnerischen Drill allein und Verbiegen der lebenden Äste in Wrestling-Manier geht es Leuten wie Gathright und Reames nämlich nicht. Schließlich sitzt man in diesem Fall auf einem Lebewesen, und das bedeutet: etwaige Interaktionen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar erwünscht. In dieselbe Kerbe schlägt nämlich auch noch ein weiterer "Growing Village"-Aspekt, der im für Arbosculpture besonders offenen Bonsai-Land Japan auf offene Ohren stößt: Baumtherapie verspricht positive Beeinflussung, warb man auf der Expo Aichi für einen neuen therapeutischen Zweig. Schließlich weiß man nicht nur dort: Bäume sind geduldig. Stoisch, voll Saft und ver- wurzelt. Und: Sie können zuhören wie selten einmal jemand.
(Robert Haidinger/Der Standard/rondo/14/10/2005)