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Ein russischer Milizoffizier führt ienen unidentifizierten Mann ab.

Foto: AP
Ein Großkommando islamistischer Rebellen hat die Hauptstadt der russischen Kaukasusrepublik Karbardino-Balkarien angegriffen. Regierungssoldaten und Polizisten lieferten sich stundenlange Gefechte mit den Aufständischen. Die Spur führt nach Tschetschenien.

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Naltschik/Moskau – Eben erst hat der Jahrestag der Geiselnahme von Beslan die Frage der Sicherheit im Nordkaukasus ins Bewusstsein zurückgebracht und eben erst wurde peinlich vermerkt, dass der Hergang noch immer nicht aufgeklärt wurde. Schon wird Russland durch die nächste Katastrophe daran erinnert, dass das Pulverfass Kaukasus fern von jeder Stabilität ist.

Am Donnerstag haben Rebellen mit großflächigen Überfällen ein Blutbad in Naltschik, der Hauptstadt der südrussischen Republik Kabardino-Balkarien, angerichtet. Die Zahl der Opfer blieb bis zuletzt widersprüchlich, sie reichte bis knapp 80, Dutzende wurden verletzt. Auch Angaben über die Zahl der Rebellen variierten zwischen 60 und 600.

Erste Kämpfe begannen noch in der Nacht, als russische Sicherheitskräfte nahe der 300.000 Einwohner großen Stadt einen Sondereinsatz starteten, angeblich zur Liquidierung einer religiös-extremistischen Kampftruppe. Dabei wurden einige Extremisten gefangen genommen. Offenbar um die Spezialtruppen von diesen abzulenken, fiel am Vormittag eine große Rebellenbande in die Stadt ein und startete großflächige Gefechte. Die meisten Verwaltungsgebäude der russischen Truppen und Regierungsgebäude wurden attackiert, auch wollten die Aufständischen Flughafen, Gefängnis und ein Waffengeschäft einnehmen.

Der Verkehr wurde paralysiert, Telefonleitungen brachen zusammen. Leichen und Verletzte lagen auf den Straßen, über 30 Rettungswägen waren im Einsatz. Leute flohen panisch aus der Stadt.

Im Übrigen blieben die Beurteilungen der Situation den Tag über widersprüchlich. Kämpfe hielten bis zum späten Nachmittag an. Schon zuvor hatte Präsident Wladimir Putin den Befehl ausgegeben, jeden, der sich den Anordnungen der Behörden bewaffnet widersetzt, zu erschießen.

In einem zu Redaktionsschluss bekannt gewordenen Zwischenbericht des Vizeinnenministers Alexander Tschekalin an Putin heißt es, dass über 50 Rebellen getötet wurden, die russischen Einsatzkräfte hätten zehn bis zwölf Mann verloren. Gleichzeitig sprach Vizestaatsanwalt Kolesnikov davon, dass von geschätzten 80 bis 100 Rebellen zwölf gefangen und 20 getötet wurden.

Laut dem Präsidenten von Kabardino-Balkarien, Arsen Kanokov, sind zwölf Einwohner der Stadt getötet und etwa 50 verletzt worden sind. Das Gesundheitsministerium sprach gegen 13 Uhr MEZ von 72 Verletzten.

Kanokov ordnete die Rebellen, die teils aus der eigenen Provinz, teils aus Tschetschenien seien, der wahhabitischen Jamaat-Gruppierung "Jarmuk" zu. Diese soll schon in die Häuserexplosionen 1999 in Moskau verwickelt gewesen sein. Parallel dazu bekannten sich tschetschenische Rebellen als "kaukasische Front" auf der Internetsite "Kavkaz-Center" zum Überfall. Auf ähnliche Weise hatten Terroristen im Juni 2004 die Teilrepublik Inguschetien überfallen und fast 100 Vertreter der Sicherheitsbehörden erschossen.

Tschetschenienkrieg

Wie von Beobachtern längst befürchtet, weitet sich der Konflikt von Tschetschenien, wo der Rebellenkrieg unvermindert weitergeht, zunehmend auf den restlichen Nordkaukasus aus. So wurden etwa im Juni des Vorjahres zwei Dutzend Verwaltungsgebäude in Inguschetien gleichzeitig attackiert und bei Gefechten um die 100 Personen getötet. Kurze Zeit später wiederholte sich Ähnliches in Tschetschenien: Die Anzahl der Rebellen erreichte bis zu 300. Der tragischste Überfall ereignete sich vor einem Jahr im nordossetischen Beslan, wo über 300 Geiseln, großteils Kinder, ums Leben kamen.

Auch das 12.500 Quadratmeter große, vom sunnitischen Islam dominierte Kabardino-Balkarien war schon zuletzt immer wieder Schauplatz extremistischer Anschläge. Zugeschrieben wurden diese meist radikalen Islamisten. Zum größten Unruheherd der Region neben Tschetschenien hat sich Dagestan entwickelt, wo es nahezu täglich zu gezielten Attacken gegen Staatsangestellte kommt.

Der Europarat verurteilte den Überfall in Naltschik. Die Verantwortlichen dieser "barbarischen Akte" seien nichts weiter als Kriminelle, sagte der Präsident der Parlamentarischen Versammlung, der Niederländer René van der Linden. (Eduard Steiner/DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2005)