Geschlechterpolitik
Eine Schlepperin aus Mitleid
Der Richter war mild gestimmt
Normalerweise spielen sich solche Verfahren ganz anders ab", sagt Peter Liebetreu, ein
niemals berufsmüder Richter mit großem Herz. Milka schluckt. Sie ist soeben mit sechs
Monaten bedingt davon gekommen. "Bedingt heißt, Sie dürfen drei Jahre nicht mehr
schleppen", warnt Liebetreu. "I tu's eh nimma", sagt die Friseurin: "Is' ja auch gar niemand mehr
da."
Mitten in die stille reumütige Prozessendphase platzt der Radetzkymarsch (aus dem Handy in
ihrer Handtasche auf der Anklagebank). "Das sind die Kinder, die sind neugierig", verrät die
Innviertlerin. "Jetzt besprechen S' mit Ihrem Anwalt, ob Sie das Urteil annehmen, und dann
rufen S' die Kinder zurück", rät der Richter. - Selbstverständlich nimmt sie das Urteil an.
Milka, gebürtige Bosnierin, hat im Jahr 1995 einige Dutzend eingeschleppte Landsleute von
Österreich nach Deutschland weitergeschleppt. Ihr Motiv: "Mir ham s' leid 'tan." Des
Staatsanwalts Motiv: Erwachsene zahlten 500 D-Mark, Kinder 200. "Aber wer nix g'habt hat, hat
nix zahlen müssen", relativiert Milka. "Gehabt haben sie alle nichts", widerspricht der Richter.
"Sie ist in die Gelegenheit subjektiv hineingeraten", behauptet ihr Verteidiger. Jedenfalls konnte
sich Milka des bosnischen Ansturms auf ihr Haus in einem Dorf bei Braunau bald nicht mehr
erwehren. "Ich hab' Hunderte wegschicken müssen", erzählt sie.
Der Flüchtlingstransport im Opel Kadett klappte monatelang reibungslos. Die Erwachsenen
hatten falsche Papiere. Die Kinder wurden im Kofferraum versteckt. "Haben die keine Angst
gehabt?", fragt der Richter. "Die haben schon viel Ärgeres durchgemacht", erwidert Milka. Sie
selbst konnte in den Nächten davor nicht schlafen. Ihre Nervosität während der Fahrt
bekämpfte sie mit ein paar Schluck Wodka. Einmal hat man ihr an der Grenze den Pass
abgenommen. Sicherheitshalber ist sie auf und davon gefahren. "Da hab' ich's dann
aufgegeben", sagt sie.
"Nachdem Sie Mitleid mit den Leuten hatten, hat das Gericht jetzt Mitleid mit Ihnen", begründet
Richter Liebetreu das milde Urteil.
Daniel Glattauer
für
Der Standard