Im Bereich rekonstruierter Haut hat sich seit den Anfängen in den Siebzigerjahren Bemerkenswertes getan: Langzeitwirkungen müssen aber weiterhin am Gesamtorganismus von Probanden getestet werden.

Foto: L'Oréal

Schon einmal etwas von "Stingern" gehört? Stinger sind Menschen, die beim Auftragen eines neuen Gesichtspflegeprodukts innerhalb kürzester Zeit ein unangenehmes Brennen, Kribbeln oder gar Juckreiz empfinden. Und davon gibt es gar nicht so wenige. "Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung", schätzt der Dermatologe Walter Wigger-Alberti vom renommierten Hamburger Forschungsinstitut Proderm. Ganz generell gilt: Immer mehr Frauen und Männer neigen zu Hautirritationen.

Über die Hälfte aller 2000 Befragten einer von Proderm durchgeführten Studie bezeichneten ihre Haut selbst als ,,empfindlich". Neben den Dauerkampfparolen ,,Anti-aging" oder ,,Aktivierung hauteigener Abwehrkräfte" heißt das Top-Thema in den Forschungszentren der Kosmetikkonzerne: ,,Optimale Wirkstoffverträglichkeit bei empfindlicher Haut."

Welcher Pflanzenextrakt wirkt besonders reizlindernd? Welcher synthetische Stoff kurbelt die eigene Widerstandskraft der dünnen Hornhaut wieder an? In den Hightechlabors der Branche wird gefahndet und geforscht, dass die Reagenzgläser nur so scheppern. 507 Millionen Euro investierte der Weltkonzern L'Oréal im vergangenen Jahr in den Bereich Forschung und Entwicklung; beim vergleichsweise kleineren deutschen Kosmetikunternehmen Beiersdorf waren es noch immer ganze 100 Millionen Euro.

Mittlerweile unverzichtbar in der Entwicklungsphase eines neuen Pflegeprodukts: Tests an künstlich gezüchteter Haut. Jeder Wirkstoff, jede Substanz, die in Verdacht gerät, eine positive Wirkung zu erzielen, wird zuerst an ,,in vitro" hergestellter Haut ausprobiert. Mit erstaunlichen Ergebnissen:

"Die Zellkultur reagiert wie lebende Hautzellen, und ich kann damit einige der tollsten Sachen klären: Wie wirken Lichtschutzfaktoren? Welche Reizphänomene zeigen sich? Was hebt die Sauerstoff- und Feuchtigkeitsversorgung?", schwärmt Erich Leitner, Chemiker und wissenschaftlicher Berater von L'Oréal. Seit 1989 führt der Kosmetikkonzern Verträglichkeitstests an künstlichen Modellen durch. Vor fünf Jahren gründete L'Oréal sogar ein eigenes Zentrum für die industrielle Rekonstruktion der Haut. Episkin SNC in Gerland (Frankreich) züchtet nicht nur Hautgewebe für den eigenen Forschungsbedarf, sondern beliefert damit auch medizinische und wissenschaftliche Labors.

Die Herstellung des künstlichen Modells...

... unterscheidet sich kaum von jener Methode, mit der es den beiden Forschern James G. Rheinwald und Howard Green von der Harvard-Universität 1975 zum ersten Mal gelang, menschliche Zellen der Oberhaut zu vermehren:
Man entnimmt dem lebenden menschlichen Organismus Hautzellen und pfropft diese im Labor in eine Art Schwamm ein. Die Zelle durchläuft verschiedene Phasen und beginnt sich - bei konstant bleibender Temperatur - zu teilen. Dann wächst eine Zellkultur heran, die regelmäßig mit einem Nährstoffcocktail aus dem Reagenzglas versorgt werden muss. Der gesamte Vorgang dauert drei bis vier Wochen.

Jüngster Clou des L'Oréal-Labors: Die Rekonstruktion von gealterter Haut, auf der sich bestimmte Mechanismen der Hautalterung nachvollziehen lassen. Und das soll längst nicht das Ende des Fortschritts von In-vitro-Hautgewebe markieren: "In ganz Europa arbeiten zigtausende Leute an der Weiterentwicklung dieser Methode", spricht Erwin Leitner nicht nur für seinen Konzern.

Beschleunigt durch den Druck der Tierversuchsgegner und einer EU-Richtlinie, die Versuche an lebenden Tieren in der Kosmetikindustrie weitgehend verhindert, hat sich im Bereich rekonstruierter Haut Bemerkenswertes getan: Bis Anfang der 90er-Jahre war es ausschließlich möglich, so genannte Keratinozyten, die Hauptzellen der Epidermis (Oberhaut), im Labor zu züchten. 1994 gelang es dann, Melanozyten (verantwortlich für die Pigmentierung) in das Modell mit einzubeziehen. Und seit 1997 vervollständigen Langerhans-Zellen, die für das Immunsystem eine große Rolle spielen, das künstliche Hautgewebe. Nichtsdestotrotz - um Tests mit Probandinnen und Probanden kommt die Kosmetikbranche nicht umhin.

3-D-Hautmodelle

"Auch wir arbeiten selbstverständlich mit 3-D-Hautmodellen, aber da kann ich testen, soviel ich will, letztendlich lande ich irgendwann wieder beim Menschen", bestätigt Andreas Schepky, Forscher bei Beiersdorf und Anfang dieses Jahres für seine Entschlüsselung der Enzymaktivität in der äußeren Hornschicht der Haut mit dem internationalen Publikationspreis der Society of Cosmetic Scientists ausgezeichnet. "Die menschliche Haut ist halt um einiges komplizierter", so Schepky.

Auch Erwin Tschachler, Dermatologe am AKH Wien und Leiter des Hautforschungsinstituts Ceries, das mit dem Konzern Chanel kooperiert, verweist auf die Unzulänglichkeiten der künstlich gezüchteten Haut: "Man kann zwar die Wirkung einzelner Inhaltsstoffe sehr gut an rekonstruierter Haut austesten, aber um beispielsweise etwas über Langzeiteffektivität eines Produkts vorhersagen zu können oder über so komplexe Dinge wie Unverträglichkeiten, dazu bedarf es nach wie vor des gesamten Organismus."

Erst "in vitro" dann "in vivo" - die Devise beim Testverfahren von neuen Produkten ändert sich für die Kosmetikindustrie auch in naher Zukunft nicht - trotz millionenschwerer Investitionen. Und das hat nicht nur Nachteile. Wer hätte ohne Probanden je etwas von ,,Stingern" gehört? (Carolin Giermindl/Der Standard/rondo/07/10/2005)