Werte Frau Doris Priesching, ich äußere mich fast nie zu Besprechungen meiner Werke. Wiesen diese nämlich einen derart hohen Gehalt an nicht hinterfragten Klischees auf wie viele ihrer printmedialen Rezensionen, würde man Sicheritz-Filme mit Recht der Öffentlichkeit vorenthalten. Ich kommentiere Ihr Elaborat zu "Im Reich der Reblaus" (STANDARD vom 25. 10.) deshalb, weil ich mich persönlich von Ihrer prinzipiellen Dialogfähigkeit überzeugen durfte. Ein rares Privileg - die meisten Filmkritiker kennen mich nicht näher als Femerichter den Delinquenten.

Sie haben sich als profilierte Kulturjournalistin mit der Entstehung von Klischees oder (besser, weil vielschichtiger) von Stereotypen in Gesellschaften auseinander gesetzt. Als "griffige Zusammenfassung von Eigenschaften oder Verhaltensweisen" definiert man das Stereotyp im Lexikon. Damit ist schon viel über seine notwendige Qualität gesagt. Ein Stereotyp muss schon einiges können, damit es sich als solches überhaupt durchsetzt - zumindest der erlebten Wirklichkeit näher sein als Ideologien des Intellekts.

Darüber kann der beliebte, pejorative Einsatz des verwandten Begriffs "Klischee" nicht hinwegtäuschen. Das wissen nicht nur, aber auch wir beide. Dennoch gelingen Ihnen schon in den ersten Zeilen mit der Verwendung der Klischees "jazzende Amerikaner, finstere Russen, reiche Juden" mehr Treffer als mir in den schlimmsten Stunden meiner Berufsuntauglichkeit.

Abgesehen davon, dass die Amerikaner (im Gegensatz zu den Russen) im Österreich der Fünfzigerjahre nachweislich jazzten und die Russen (im Gegensatz zu den Amerikanern) schon wegen ihrer bitteren Armut meist finster wirken mussten - dass im "Reich der Reblaus" reiche Juden vorkämen, ist schlicht falsch. Ich werte das als bedauerlichen Irrtum, ohne dahinter dunkle Tendenzen zu vermuten.

"Blanke Verhöhnung, der Produktionsfirma"

Weiter zum Thema "faktisch falsch": "Die Chance, ein differenziertes Bild jener Zeit mit hoch dotierten Schauspielern und großzügigem Budget zu erzählen, nutzte Sicheritz nämlich kaum." Abgesehen davon, dass ich Bilder nicht erzähle, sondern zeige - ist nicht schon der Ansatz, das klassische eindimensionale Modell der Familiensaga um die verschiedenen "Blickwinkel von Arbeitern, Bürgertum und Adeligen" zu erweitern, jedenfalls differenzierter als das Meiste, was uns sonst an internationalen TV-Familiengeschichten zugemutet wird? Kennen Sie das Budget von "Im Reich der Reblaus" und seine Höhe im Vergleich zur Dotation anderer ORF-Produktionen? Wenn, dann ist die Behauptung "großzügig" eine blanke Verhöhnung des Auftraggebers, der Produktionsfirma und aller Filmschaffenden, die das Entstehen dieses Filmes in dieser Qualität nur durch rückhaltlose Begeisterung für die Sache ermöglicht haben.

Mein Bestreben, das Niveau meines Kommentars nicht dem seines Gegenstandes ähneln zu lassen, verbietet mir, auf weitere Details einzugehen. Es beeindruckt mich allerdings, dass manche österreichische Journalisten im Umgang mit heimischen Kunstschaffenden eine brutale Untergriffigkeit pflegen, die zum Beispiel im medialen Umgang mit Politikern niemand wagen würde. Schon "da fühlt sich der Drehbuch schreibende Amateurpsychologe gefordert" hat einen guten Platz auf der Liste dieser Tiefschläge, wird aber noch übertroffen: "... ,man' hätte Historiker fragen können, um zu erfahren, dass es auch andere Besatzer gab." Dieser berührend sinnfreie Ratschlag ist gerade indirekt genug, um die darin verpackte Unterstellung nur zu insinuieren.

Das Drehbuch zu "Im Reich der Reblaus" entstand natürlich unter Mitwirkung von Historikern und der höchst engagierten Redaktion des ORF. Sein Inhalt ist durchwegs erlebte Geschichte, zusammengetragen aus Dutzenden von Zeitzeugenberichten. Für die Erlaubnis zu ihrer Verwendung bin ich meinen Informanten sehr dankbar. Jetzt durften wir endlich erfahren, dass alle diese Lebensgeschichten nicht mehr ergeben als "so ziemlich alle gängigen Nachkriegsassoziationen". Für diese Chance zur späten Erkenntnis ihrer banalen Existenzen sind meine Informanten dem STANDARD mit Sicherheit sehr dankbar.

Ich werde mich weiter bemühen, vor allem Menschen anzusprechen, die ihr Denken nicht nach unreflektierten Vorurteilen und Klischees lenken und sich schon deshalb von solchen umgeben glauben. Ich werde mich weiter bemühen, nicht nur jene zu überzeugen, die ohnehin schon überzeugt sind. Ich werde mich weiter bemühen, die Kunst (bekanntlich eine Tochter der Freiheit) nicht den Klauen jener Kleingeister zu überlassen, die sie für eine Elite arrogieren wollen. Ich bin bereit, dafür weiterhin Häme, Kränkungen und berufliche Vernichtungsversuche zu erdulden.

Darum kann ich Ihnen nicht viel bieten, außer einem sachdienlichen Hinweis: Wer es nicht schafft, sich über die Gürtellinie zu erheben, darf sich über seinen entsprechenden Horizont nicht wundern.

Cinematografía o Muerte! (DER STANDARD, Printausgabe, 31.10./1.11.2005)