Wien - Es war ein seltsamer, ein erschreckender Abend. Graue Mienen auf den Stiegen, in den Foyers und in den Gängen des Wiener Musikvereins. Ans Dirigentenpult wird mit einer Miene und einer messdienerischen Haltung getreten, die - so scheint es - verspüren lassen sollen, dass nun gleich enorm Ernstes, Wichtiges, Hehres mitzuerleben sein darf, dargeboten vom Bescheidensten aller.

Was dann kommt? Nichts. Nichts außer sachlicher, pedantischer und gefühlskühler Koordination der Töne. Mit der rechten Hand und mit einer Exaktheit, die mutmaßen lässt, dass Strenge womöglich mehr Lust als Last bedeutet, schlägt der Dirigent den Takt, mit der linken weist er den Orchestermusikern die Einsätze zu, einem gestrengen Gottesmann gleich, der seinen Schäfchen im Wähnen um die eigene Heiligkeit Hostien auf die Zungen legt.

Ernste Mienen

Es entstehen so Igor Strawinskys Psalmensymphonie und die Requiem Canticles - zumindest ereignen sich hier Töne in partiturgemäßer Höhe und Abfolge. Darüber hinaus möchte sich allerdings nichts ereignen.

Seltsam: Die Musikerinnen und Musiker des im Musikverein ganze viermal gastierenden Cleveland Orchestra machen Mienen, als wäre ihnen einige Minuten vor dem Konzert etwas Schreckliches übermittelt worden; die Sängerinnen und Sänger des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde (unter der Leitung von Johannes Prinz) singen Töne - aber eher spröde und leer.

Bei Franz Schubert dann aber Musik, endlich Musik. Im ersten Satz der Unvollendeten etwa gelingt Dirigent Franz Welser-Möst ein zweites Thema von einer zögernden Zartheit, einer schwebenden Innigkeit ohnegleichen, das Cleveland Orchestra musiziert plötzlich mit bestaunenswerter Homogenität, mit künstlerischer Stilsicherheit und Reife.

Man erlebt ein perfekt präsentiertes Meisterwerk, ein akkuratest renoviertes musikalisches Monument: fast, dass die perfekte Schale den Keim des Menschlichen unglaubhaft machen würde. Bescheidenstmögliche Applausentgegennahme vonseiten des ergebenen Kunstdieners. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.11.2005)