Leo Bretholz

Foto: STANDARD/Andy Urban
Seine zeithistorisch bedeutsamen Erinnerungen fasste er in ein Buch, das er in Wien präsentiert.

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Wien - Die wissenschaftliche Aufarbeitung der organisierten Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs wäre ohne die peniblen Aufzeichnungen der Nazis über ihr Handeln kaum möglich. Die von den Henkern selbst gefertigten Deportationslisten sind zeithistorische Dokumente, anhand derer der Holocaust zumindest quantifiziert werden kann.

Aus einer geht etwa Folgendes hervor: Heute vor genau 63 Jahren, am Morgen des 6. Novembers 1942, verließ der deutsche Gütertransport Nr. 42 das französische Internierungslager in Drancy. Von den eintausend in die Viehwagons gepferchten Juden wurden siebenhundertdreiundsiebzig bei ihrer Ankunft in Auschwitz vergast oder waren auf dem Transport dorthin umgekommen. Hundertfünfundvierzig Männer und zweiundachzig Frauen wurden für Sklavenarbeit eingesetzt, nur vier Männer überlebten.

Diese mörderische Arithmetik wurde von den Nazis noch mit den persönlichen Daten der zu Tode gebrachten garniert. Ein kleiner Auszug: Marthe Breitenfeld, Bienfeld, Deutschland; Leo Bretholz, Wien, Österreich; Abram Bronoff, Novogoriek, Russland.

"Diese Liste stimmt nicht ganz", sagt Leo Bretholz im Gespräch mit dem STANDARD. Der 1921 in Wien geborene Jude hat überlebt. Er gehört zu den ganz wenigen Zeitzeugen, die ihrem Tod durch einen Sprung aus dem fahrenden Deportationszug entkommen sind. Einen Sprung in eine weiterhin lebensbedrohliche Ungewissheit: Seine Flucht vor den Nazis sollte ihn noch jahrelang quer durch Europa treiben. Erst 1947 landete er in den USA. Er lebt in Baltimore.

Derzeit ist er jedoch zu Besuch in Wien. Im Jüdischen Museum präsentiert er am Montag sein Buch Flucht in die Dunkelheit (Löcker Verlag): so sehr berührende Erinnerungen, in einer klaren Sprache, dass sie schmerzhafte und grauenvolle Bilder des Damaligen in der Vorstellung des Lesers entstehen lassen. Damit reiht sich dieses Buch auch ein in die Liste jener von Zeitzeugen verfassten oder auf ihren Erinnerungen aufbauenden Werke, die notwendige Ergänzungen zur Geschichtswissenschaft darstellen - es gibt dem Holocaust eine menschliche Qualität.

Als "Teaching Tool", als Werkzeug für Geschichte Lehrende und Lernende will Leo Bretholz sein Buch verstanden wissen. Sich selbst sieht der Autor nur als "Fußnote" in einer tragischen Historie. Es geht ihm, dem Credo des diese Woche verstorbenen Doyen der US-Geschichtswissenschaften, des Historikers Gordon Alexander Craig folgend, darum, weniger die Umstände als mehr die Akteure in den Vordergrund zu stellen. Den Menschen als solchen zu zeigen, den Gepeinigten wie den Peiniger. "Beide dürfen nicht vergessen werden" und stürbe die Erinnerung an die Opfer, "würden sie ein zweites Mal zu Tode gebracht werden".

Leo Bretholz gibt ihnen also Namen und Identitäten. Er beschreibt das Glück, das er in Frankreich in einer Krankenschwester, einer katholischen Nonne, gefunden hat, drückt den Schmerz einer Mutter aus, deren kleines Kind von einem SS-Mann aus Langeweile erschossen worden ist, skizziert die Verzweiflung in Lager und Zug und die vielen Jahre seiner Flucht: 1938 wurde er von seiner Mutter aus Wien weggeschickt - er sollte überleben, seine Mutter und Schwestern nie wieder sehen.

Neben der Erinnerung an die Vergangenheit will Bretholz aber auch eine Mahnung für die Zukunft geschrieben haben: "Hitler ist tot, aber seine Gedanken leben weiter", sagt er und verweist auf die israelfeindlichen Aussagen des iranischen Präsidenten, auf geschändete israelitische Friedhöfe und mit Hakenkreuzen verschmierte Synagogen.

Das jüdische Gotteshaus will er auch in Wien besuchen: Weniger aus Gründen des Glaubens, denn diesen hat er in besagter Zeit verloren: "Als die Synagogen in Flammen aufgegangen sind, muss Gott darin verbrannt sein." Vielmehr jedoch in Erinnerung an das Novemberpogrom in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 - dieser so genannten Reichskristallnacht wird in der kommenden Woche mit einigen Veranstaltungen in Österreich gedacht.

Bis 1963 konnte Leo Bretholz, der in Baltimore eine Buchhandlung führte und für Zeitungen Essays schrieb, nicht über das Erlebte sprechen. Dann begann für ihn selbst eine lange Zeit der Aufarbeitung. Nun habe er einen Punkt erreicht, an dem er seine Erinnerungen an die Geschichte auch nach außen tragen könne - nämlich frei von Ressentiments und Hass. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. 11. 2005)