Das ist nicht nur bulgarische Gastfreundschaft vom Feinsten, das ist auch "Alltagspoesie", wie die mitreisende Schriftstellerin Rumjana Zacharieva mit leuchtenden Augen sagt. Sie hat gut leuchten, Rumjana ist schließlich selbst Bulgarin, wenn auch vor langer Zeit nach Deutschland emigriert. Sie saugt Worte und Gesten der Frau Klostermuseumsdirektorin auf wie einen fast vergessenen Geschmack aus Kindertagen. Mitteleuropäer schlucken dagegen etwas betreten - diese spezielle bulgarische Poesiefolklore ist schwer verdaulich. Am schnellsten hilft ein Gläschen Trojanská slivova, ein honigfarbener, vollmundiger Pflaumenschnaps, der es im Magen wohlig warm werden lässt - und der einen förmlich von innen heraus mit einem schützenden Panzer umgibt.
Gelegenheiten, den Schutz des Schnapses zu suchen, gibt es in Bulgarien genügend. Denn das Land befremdet durchaus, und das hat in erster Linie mit Politik und erst in zweiter Linie mit Poesie zu tun. Das liegt nicht an den Satellitensiedlungen Druzba (Freundschaft) I und II oder Mladost (Jugend) I, II und III rund um Sofia - dort geht es, im Vergleich zu den französischen Banlieues, fast heimelig zu. Dass auf dem Lande noch immer der Eselskarren ein selbstverständliches Transportmittel ist, ist auch noch nicht unbedingt "typisch" bulgarisch. Schon eher, dass alle paar Wochen in der Sofioter Innenstadt ein Banker oder ein Spitzenmanager auf offener Straße von der Mafia hingerichtet wird, zuletzt der zweitreichste Unternehmer Bulgariens. Es war dies der achte Auftragsmord innerhalb von zwei Monaten, und die Sofioter reagierten beunruhigend stoisch. "Es wird Gründe dafür gegeben haben", kommentierte das beispielsweise Krassimir Petrov, einer von Bulgariens führenden Lyrikern, ein ausgebildeter Jurist, und zuckte dabei uninteressiert mit den Schultern. Mehr Worte bedarf es nicht, um zu begreifen, warum man sich hier so schwer tut, die Antimafiagesetze der EU zu implementieren.
Am befremdlichsten wirkt auf Nichtbulgaren, wie selbstverständlich bulgarische Schriftsteller von sich als "Slawen" sprechen, von ihrer "Balkan-Mentalität", ihrer "Balkan-Literatur" und dem "Bulgarischen" in ihrer Poesie. Ivan Vazov, immer noch hoch verehrter, 1921 verstorbener Nationaldichter, hat der "Suche nach dem Bulgarischen" eine eigene Kurzgeschichte gewidmet. In Großvater Joco schaut fragt der erblindete Greis Joco immer wieder "Wo ist das Bulgarische?", bis er es in der neu erbauten Eisenbahn wiederfindet, die über die Iskar-Schlucht stampft und donnert. Er grüßt sie, mit der Mütze in der Hand - und stirbt. (Erschienen ist Vazovs Geschichte in der kürzlich bei der Frankfurter Buchmesse präsentierten, virtuos zusammengestellten Anthologie Bulgarien Prosa, herausgegeben von Valeria Jäger und Alexander Sitzmann, erschienen im Wieser Verlag in der Reihe "Europa erlesen").
Kann man bei dem verblichenen Nationaldichter Vazov ins Treffen führen, er habe mit seinem Werk die "Abstreifung des osmanischen Jochs" (Bulgarien war bis 1878 Teil des Osmanischen Reichs) und das Werden der jungen bulgarischen Nation verarbeitet, hat die Selbstbespiegelung bei heutigen Poeten wohl mit den "Zuständen" zu tun, von denen alle reden, unter denen sie leben und leiden und schreiben. Es ist das immer wiederkehrende Thema, in Variationen.
Bei den Älteren, Etablierten wird die alles andere als glänzende Kapitalismus-Gegenwart oftmals mit der kommunistischen Vergangenheit gespiegelt (was mitunter etwas wehleidig klingt). Wladimir Zarev, in seiner Heimat fast ein "Star", hat sich dem Thema "Bulgarien zwischen Gestern und Heute" derart eindringlich gewidmet, dass Kiepenheuer & Witsch aufmerksam wurde. Rasrucha wird gerade übersetzt, Zarev soll im nächsten Herbstprogramm des Verlags als eine Art "Kundera von Bulgarien" herausgebracht werden. Zarev zeichnet in Rasrucha ein schonungsloses Bild seiner eigenen Kaste. Sein "Held", der Schriftsteller Martin Sestrimski, erkennt: "Vorher waren die meisten Schriftsteller der Partei treu bis zur Verblödung, nun sind dieselben Leute unterschiedslos Verehrer der Demokratie. Für sie schwärmten plötzlich ebenso viele Dissidenten und andere, die ,unter dem System gelitten hatten', wie es vorher aktive Kämpfer gegen den Kapitalismus und Partisanen gab. Ich kam zu dem Schluss, dass diese Leute gar keine Freiheit wollen, sondern nur einen neuen Herrn suchten, dem sie sich unterwerfen konnten. So taten sie alles Erdenkliche, um ihre Biografie einzupacken und sie vor ihrem neuen Meister aufzuhäufen - der Demokratie. Ich fühlte mich betrogen und auf nervige Weise angeekelt." Beinahe unnötig zu erwähnen, dass Sestrimski diesen Ekel nur mit Slivová und Co hinunterspülen kann.
Bei den Jüngeren, wie etwa Todora Radeva oder Alek Popov, klingt alles ein wenig geschichtsloser, unmittelbarer, spöttischer - und mitunter ins Absurde gesteigert. Der 39-jährige Popov beschäftigt sich in seinen Kurzgeschichten mit all den "Dienstleistungen", die man im heutigen Bulgarien kaufen kann - etwa die eigene Enthauptung oder die Selbstbespitzelung, die am Ende logisch zur Selbstliquidierung führt. Die 32-jährige, dreifache Mutter Radeva wiederum sieht sich als Vertreterin der modernen bulgarischen Frau, eine Art Sofioter Candace Bushnell. Sie schreibt ebenfalls über Sex and the City, aber in blumigen Bildern, die der slicken New Yorkerin wohl nicht einmal im Traum einfallen würden. Radeva etwa erzählt in völlig natürlichem Ton, wie eine Frau, deren Leben in täglicher Einförmigkeit verläuft, an einem Haus vorbeikommt, das ihr via Inschrift prophezeit, sie allein werde dort "die Liebe finden". Was in Bulgarien, zumindest laut Radeva, Frauen allen Alters für durchaus möglich halten, wäre in New York wohl nicht denkbar. Es sei denn, hinter der Inschrift verbirgt sich ein hipper Schönheitstempel mit besonders originellem Marketingkonzept. Nicht so in Bulgarien. Dort gibt es dafür ein erzieherisches Motiv. Radeva will Frauen sagen, "dass sie nicht perfekt sein, sondern sich selbst lieben müssen". Ja, eh.
Bei einer Frau wie Rumjana Zacharieva kommt so etwas nicht gut an. Zacharieva verließ Bulgarien schon 1970, nicht einmal aus politischen Gründen ("sondern der Liebe wegen"). Seither lebt sie in Bonn, sie schreibt in deutscher Sprache - Hörspiele, Erzählungen, Gedichtbände und Romane, wie 7 Kilo Zeit oder Bärenfell (beide Hörlemann Verlag). Sie ist eine fröhliche Mittfünfzigerin, die sich in einem Restaurant schon einmal hingebungsvoll zu den quengelnden Melodien einer Hammondorgel wiegt . Zacharieva bezeichnet sich selbst in ganz natürlichem Tonfall als "Verräterin", weil sie ihr Land und so vieles andere verlassen habe. Wer als Schriftsteller nicht schonungslos mit sich selbst und der Welt ins Gericht gehe, tauge nicht für diesen Beruf, meint sie.
Das klingt dick aufgetragen, trifft aber wohl einen Nerv, denn 7,5 Millionen Einwohnern Bulgariens stehen fast vier Millionen ausgewanderte Bulgaren gegenüber - und für sie alle ist Weggehen, Verlassen, Heimatlosigkeit und schlechtes Gewissen wohl irgendwie ein Thema. Treffend variiert hat dieses Thema jedenfalls Dimitré Dinev in seinem von der Kritik gefeierten Migrantenroman Engelszungen (Deuticke, 2003). Da treffen zwei ruinierte Bulgaren auf dem Wiener Zentralfriedhof zusammen, weil sie sich Hilfe vom verblichenen "Engel der Einwanderer" erhoffen, und finden heraus, dass sie einander von irgendwoher kennen . . .
Dinevs Popularität in Deutschland und Österreich wird von Bulgariens Literaturjournalisten scheel betrachtet. Man wünsche mehr Übersetzungen "echter" bulgarischer Autoren, wurde kürzlich bei einem Treffen mit Übersetzern, Schriftstellern und ausländischen Journalisten in Sofia lautstark eingefordert. Dabei wolle man selbst bestimmen, wen und was die Verlage auf Deutsch herauszubringen hätten - ein schönes Beispiel für die Verkennung der Gesetze des Buchmarkts und ein Beleg dafür, wie weit man in Bulgarien mitunter noch hinter dem Mond lebt, wenn der Nationalstolz dazwischenkommt.
Denn um nichts anderes geht es hier. Bulgarien ist stolz auf seine Dichter und will Europa daran teilhaben lassen, weiß aber noch nicht genau, wie. Die Bulgaren lesen (im Vergleich zu vielen anderen Europäern) gerne und viel. So erreichen Gedichtbände eine Startauflage von zweitausend Stück - was in etwa österreichischen Dimensionen entspricht und doch recht beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass viele Bulgaren oft nicht einmal wissen, wie sie die Heizrechnung des nächsten Monats bezahlen sollen.