Peter Stephan Jungks Roman über Welt- und Familienerfahrungen: "Die Reise über den Hudson"
Klaus Zeyringer
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Wer sich in Familie begibt, kommt darin um, bemerkten Dichter schon in den 1920er-Jahren. Seither haben, auch durch die Erfahrungen von Exil, Holocaust, Weltkrieg, die verwandtschaftlichen Beziehungen vielfältigere Bedeutungen erhalten. Mit Franzen, Foer, auf Deutsch vor Kurzem mit Anna Mitgutsch, Eva Menasse, nun mit Arno Geiger kommt offenbar der Familienroman erneut in Schwung. Vor allem den Geschichten jüdischer Emigranten und ihrer ermordeten Angehörigen gilt ein historisch-literarisches Interesse, sind doch ungeheuerliche Ereignisse und Extremsituationen in Erzählung zu fassen, lassen sich zugleich Verwurzelungen und Bewegungen schildern, öffentliche und private. Peter Stephan Jungk, der Sohn eines berühmten Vaters, stellt in seinem neuen Roman
Die Reise über den Hudson
eine Bewegung in Raum und Zeit, eine stockende Autofahrt und einen Gedächtnisstrom dar. Gustav Rubin, der 45-jährige Sohn des verstorbenen berühmten Nuklearphysikers und Philosophen Ludwig Rubin, ist nicht wie vorgehabt Historiker geworden, sondern Pelzhändler in Wien. Seine in New York wohnende Mutter Rosa, zu deren Leidwesen er sein Judentum orthodox lebt, holt ihn im August 1999 vom Kennedy-Flughafen ab; sie fahren den Hudson entlang zum Urlaubsdomizil, wo schon Gustavs Frau und Kinder auf ihn sowie auf den Sabbatbeginn warten. Auf der Tappan Zee Bridge stecken sie stundenlang im Stau und in Erinnerungen. Unter der Brücke vermeinen sie, über die ganze Breite des Hudson riesengroß den Körper des übermächtigen Vaters liegen zu sehen.
Wenn Gustav und die Mutter, die bisweilen seine Gedanken lesen kann, bestenfalls im Schritttempo vorankommen, rücken sie in leicht mystischer wiewohl realistisch geschilderter Beziehung auch über den Vater voran, von den Zehen bis zu seinem besonderen körperlichen Merkmal, einer dritten Brustwarze. Das neunte von 18 Kapiteln beginnt mit dem Satz: "Mutter und Sohn standen hoch über Vaters Geschlecht", und im zehnten bietet des leisen Sohnes Rückblick einen beispielhaften Bericht des überaus vitalen Vaters von seinen Vortragsreisen, eine Aufzählung der Orte, Hotels, Auftritte. Nach einigen Vorfällen und Zufällen auf der Brücke dringt schließlich der Sohn - unter Lebensgefahr - zum Kopf des Vaters vor. Eine intensive, konzentrierte Erforschung von Ich, Wurzeln, Umständen.
Die Tappan Zee Bridge führt nach Tarrytown, Sleepy Hollow. In dieser Gegend stehen die Landsitze der Roosevelts und Rockefellers, hier hatte Washington Irving die Sage vom "Headless Horseman" angesiedelt, die ja auch mit Auswanderung und Krieg zusammenhängt. Der Kopf des Vaters und ein Reiter ohne Kopf. Darauf spielt Jungk im Schlussteil seiner Reise über den Hudson fein an. Die Fahrt über den Fluss, die Brücke sind Metaphern für Leben und Tod, für einen Übergang zu anderen Ufern, für eine Situation in der Schwebe. Die Metaebene, die Geschichten aus Europa und den USA, die Familienverhältnisse, das versteht Jungk eindringlich und in vielen Passagen recht dicht zu schildern.
Allerdings hat er die Bedeutungen etwas aufdringlich - die Handlung spielt am Jahrestag der Atomexplosion von Hiroshima -, die Konstruktion eine Spur zu plakativ angelegt: Das Geschlechtsleben kommt ins Gedächtnis, als Sohn und Mutter über dem Gemächt des Vaters stehen; im Stau auf der Brücke hält einer Vorträge über Brücken; ausgerechnet die Pilotin von Gustavs Flug dient als Dea ex Automachina in einem Anflug eines Kitschbildes der Rettung. Zu explizit setzt Jungk mitunter Erzählerkommentare und Metaphern (der Bub im Bett seiner Eltern: "Gustav als Brückenschlag"), gespreizt manche Dialoge, bemüht eine Erwähnungsgalerie der Berühmtheiten von Kisch über Popper bis Chaplin, Adorno, Canetti. Ein paar banale Hinweise sind unnötig (das "Handy, jener Apparat, der seit Beginn der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts jeden mit jedem in dauernder Verbindung hält"), einige Vergleiche schief (der "Schlag hatte ihn getroffen, mit der Wucht einer Guillotine" - dann hätte er nicht noch ein Jahr leben können). Ohne diese Schwächen wäre Peter Stephan Jungk ein starkes Buch gelungen. Herausgekommen ist ein interessanter, bisweilen packender und tief greifender Roman über die Beziehung eines Sohnes zu den auf unterschiedliche Art riesigen Figuren seines Vaters und seiner Mutter, über Familien- und Welterfahrungen. Lesenswert ist er allemal. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.11.2005)
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