Sarah ist zehn, fährt gern Fahrrad, findet es in der Türkei zu heiß und will nach der Volksschule ins Gymnasium gehen.

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Werner Mayer ist Direktor der Volksschule in der Ortnergass im 15. Bezirk: "Von 209 Kindern haben acht bis zehn besondere Schwierigkeiten mit Deutsch."

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Was Heimat ist? Das ist für Sarah leicht: "Wien, was sonst." Dort kennt sie sich aus, vor allem in ihrem Grätzel des 15. Bezirks, erzählt Sarah und spielt mit der Kapuze ihres Pullis: "Da weiß ich gute Plätze, wo ich mit Freundinnen Fahrrad fahren kann - und wo die Buben nicht so wild sind." In der Türkei hingegen, der Heimat ihrer Eltern, fühlt sich Sarah nicht wohl: "Da ist es urheiß. Und dauernd hab ich Gelsenstiche."

So einfach können Antworten auf schwere ideologische Fragen sein. Zumindest wenn man zehn Jahre ist. Und keine Probleme mit Deutsch hat. Wobei Sarah sagen will: "Ich kann Deutsch, Türkisch, Armenisch und ein bisschen Englisch."

Sarah ist Wienerin

Sarah ist in Wien geboren, hat jetzt auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Schulstatistik führt sie als Kind mit "nicht-deutscher Muttersprache". Als eines von 40 Prozent in Wien, als eines von 170 in ihrer Volksschule in der Ortnergasse im 15. Wiener Bezirk, einer Schule mit 209 Kindern. Und als eines von 22 in ihrer Klasse, der 4 B. 25 Kinder unterrichtet Sarahs Lehrer Richard Klemenschitz dort, drei davon haben Deutsch als Muttersprache.

"Das wäre kein Problem - wenn die Begleitumstände stimmen. Aber die stimmen seit dem Jahr 2001 nicht mehr", seufzt Klemenschitz. Vorher, da waren immer zwei Lehrer in der Klasse, er und ein muttersprachlicher Begleitlehrer. Seither wurde massivst gekürzt, um 40 Prozent. Klemenschitz hat in seiner 4 B nur für neun Schulstunden Begleitlehrer in Türkisch und Serbokroatisch: "Da kann man nicht mehr so intensiv auf jedes Kind eingehen, wie es notwendig wäre."

Das macht sich bemerkbar: Einem serbokroatischen Kind aus Klemenschitzs Klasse droht die Sonderschule, aufs Gymnasium werden es nächstes Jahr nur etwa sieben schaffen. Vor vier Jahren, aus seiner letzten vierten Klasse, waren es noch 13 von den 26 Kindern, von denen zwei Deutsch als Muttersprache hatten.

Sarah wird ins Gymnasium gehen. Mit ein bisschen Bauchweh: "Das soll urschwer sein." Das erzählt zumindest ihr Bruder, der auch ins Gymnasium geht. Die anderen beiden Brüder sind in der Hauptschule - "und werden irgendsowas wie mein Vater. Der ist Elektriker."

Der Faktor Mutter

Sarahs Mutter arbeitet nicht. Wie viele der Mütter der Kinder in der 4 B. Für ihre Tochter hat sie aber große Pläne: "Ärztin soll ich werden", erzählt Sarah, rückt ihre Brille zurecht und kichert. Fast so, als wäre das ein Witz.

Mit Sarahs Mutter und Vater hat Lehrer Klemenschitz keine Probleme. Mit anderen schon: "Manche muss ich mühsam überzeugen, dass die AHS für ihr Kind etwas ist."

Das sind aber noch die leichteren Gespräche, die Lehrer aus der Ortnergasse mit Eltern führen. Die schwereren erledigt Direktor Werner Mayer. Etwa die mit muslimischen Vätern, die ihre Töchter nicht zum Schwimmunterricht lassen wollen.

Die Islam-Schulung

"Ich habe mich intensiv mit dem Islam auseinander gesetzt. Das hilft schon allein deshalb, weil die Väter merken, dass ich sie und ihre Sorgen ernst nehme", weiß Mayer aus Erfahrung. Die Strategie hat Erfolg: Alle Kinder aus seiner Schule gehen schwimmen. Wobei Mayer bewusst ist, dass er es in der Volksschule teilweise leicht hat: Manche Probleme beginnen erst in der Pubertät - wenn sich für Mädchen die Frage Kopftuch stellt und Buben anfangen, den Macho zu geben.

Das machen vor allem die Buben, die hier keine Chance sehen: "Wir kriegen derzeit viele Jugendliche zwischen zwölf und 15, die im Rahmen des Familiennachzugs kommen und gar nicht Deutsch können", erzählt Susannah Bständig vom Verein Interkulturelles Lernen. Das seien die schweren Fälle. Sie findet es aber gut, dass jetzt das Thema Deutsch in der Schule zumindest angesprochen wird: "Es gab lange die These, dass in Wien eh alles super ist. Das ist seit der Wahl erschüttert."

Sarah findet in Wien schon "alles super". Ja, die Schule auch, obwohl: "Ich mag am liebsten Rechnen und Pause. Aber manchmal dauert die Schule ein bisschen lang." Besonders am Freitag, wenn Sarah auch noch in den Religionsunterricht geht: "Ich bin orthodox. Weißt eh, das ist das mit dem Kreuz."

Manche Klassenfreundinnen tun sich weniger leicht mit dem, was Erwachsene Integration nennen: Etwa Khava aus der 4 B, die "meine Familie in Tschetschenien sehr vermisst. Ich will später wieder dorthin." Sarah will sicher nicht in die Türkei. Ja, das Meer sei schon schön: "Aber lieber gehe ich Skifahren." Familie? Nein: "Ich habe wenig Familie in der Türkei. Die lebt in Deutschland und hier."

Sarah tut sich auch deshalb leicht in der Schule, weil sie vorher im Kindergarten war. Wenn Klemenschitz könnte, würde er das allen verordnen: "Ich wäre dafür, dass der Kindergarten Pflicht ist. Dafür müsste er aber gratis sein." Genug geredet, findet die 4 B: "Können wir jetzt bitte Turnen gehen?" (DER STANDARD, Eva Linsinger, Printausgabe, 12./13. November 2005)