Kennt sich da noch jemand aus? Brennende Vorstädte jenseits des Rheins, soziale Eruption aus Frustration und Langeweile?

In Frankreich verkohlen jede Nacht hunderte private Personenkraftwagen, also jenes Symbol der individuellen Freiheit und Mobilität, in dem wir tagsüber geschützt mit der Welt verkehren, geborgen in einem nach außen hin wehrhaften Uterus, der nur leider zur Schlafenszeit mutterseelenallein in der Novembernacht auf der Straße parkt. Bevor nun die Autoindustrie serienmäßig Selbstschussanlagen in die Karossen einbaut, ein paar schnelle Fragen an Europa. Ja, an Europa! Denn wir dürfen diese "Brasilianisierung Frankreichs" durchaus als gegen uns selbst gerichtet sehen.

Es ist meiner Meinung nach nur ein läppischer, unbedeutender Zufall, eine Laune des Schicksals, dass die soziale Pyramide in Frankreich steiler aufragt als die unsere. Und: Was wäre der tiefere Sinn des penetrant beschwörenden Europäertums, dieses EU-Dauertamtams auf allen Kanälen, wenn nicht der, dass sich Portugiesen persönlich als Polen oder Österreicher als Franzosen fühlen? Wenn so viel transnationale Solidarität nicht möglich ist, verzichte der Globus besser auf das Vorbild der europäischen Avantgardefamilie.

Gewalt ist nie allein eine Sache der anderen", hat der Wiener Intellektuelle Christian Reder einmal treffend bemerkt. Doch dass Gewalt etwas Deutendes sein könnte, dass sie aus sich heraus eine sinngebende Kraft besäße, ist ein Gedanke, der uns endlich fremd werden muss.

Soziopsychologische Kommentare zu den Krawallen greifen zu kurz. Dass die Zuwanderungspolitik zu streng oder zu wenig streng ist, dass Integrationspakete versagt haben und der Mulikulturalismus ein Benetton-Gag war, dass der sektorale Massenwohlstand auf einem neoliberalen Jobwunder samt Reserveheer von Billignomaden basiert - nun, das pfeifen die Spatzen seit Jahren vom Dach.

Keine "moralische Ökonomie der Unterklassen"

In den französischen Städten ist aber keine "moralische Ökonomie der Unterklassen" mehr am Werk, wie im 18. Jahrhundert, als die Sansculotten aus der Not heraus den Brotpreis herabsetzten. Die Gewaltakteure aus den Banlieues berappen brav ihre Pizzaschnitte und fackeln danach den Bus ab, mit dem der ausgepowerte Fastfood-Jobber, der sie eben am Tresen bedient hat, nach Hause gondelt wollte. Ich nenne diesen Fortschritt die "moralische Idiotie der Unterklassen".

Feindbilder sind ja prinzipiell irrational. Jede Sprache des Hasses ist eine Sprache des Selbsthasses, das heißt: Der neue Feind, den der jugendliche Tagedieb nun im Autobesitzer, im Polizisten, im Politiker, im Zonenpräfekten, im Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, im Schwimmbadbesucher und selbst im Kindergartenkind sieht, dieser neue Feind muss ursprünglich in seinem eigenen Inneren zu finden sein. Man hasst sich selbst immer für die wahre Liebe, die man braucht. Das Zeitalter der wohl erzogenen Guerilla ist vorüber. Die Randalierer lassen sich von einer Vorstellung der demografischen Überlegenheit leiten, und ihre Stärke liegt in der Unempfindlichkeit gegen Abschreckung.

Banlieues erscheinen von außen als eine riesige Müllhalde überlebter Ideen: Diese Sicht ist falsch. Die Burschen leben von Sozialstütze und Gaunereien, ihr Spielzeug war das Skateboard. Damit haben sie besser gelernt, auf schwankendem Boden zu bestehen, als der Rest. Gewalt ist heute ein Kode, eine Ausdrucksform wie früher der Handkuss oder das Verliebtsein. Konsultieren Sie mal Managementratgeber ("Business-Krieger") oder besuchen Sie den nächstgelegenen Videoverleih!

An vielen Orten erfolgt heute die physische Abhärtung durch seelische Stählung, die Kultivierung einer großen Entschlossenheit oder Rache, die Konzentration auf ein einziges Ziel, bis alle Zweifel ausgelöscht sind. Im Sport, im Kino, im Jobtraining, überall praktizieren wir eine beinahe meditative Versenkung in die Aggression, die unweigerlich auf die Vernichtung des Gegners zusteuert.

Um der Angst zu entgehen, versuchen wir uns angstsüchtig zu machen. Wir üben uns ein in Angst. Den Kids gelingt auch das besser.

Also nicht das prahlerische Wort Sarkozys ist das Problem. Konflikt und Gewalt bestehen seit Langem. "Die beste Art, sich zu wehren, ist, sich nicht anzugleichen", hat Marc Aurel einst notiert, und der kämpfte mit dem Bewusstsein der Vergeblichkeit für die Zivilisation und das Recht.

Die Rede von "Problemgebieten" ist eine Verharmlosung. Es gibt keine Jobs ohne Schulabschluss! Die Randalierer lassen sich auch nicht mehr integrieren. Integrieren lassen sich überschaubare Gruppen; ist eine Minorität aber erst einmal bei zehn Prozent der Bevölkerung angelangt, spürt sie den Druck der Anpassung nicht mehr, sondern versucht ihrerseits Druck auszuüben.

Jobwünsche erheben, Finanzmittel für Sozialvereine, schulische Segregation, Stiftung von Internaten, 5000 zusätzliche Hilfekräfte in Schulen - das Maßnahmenpaket der Regierung wird kaum greifen. Die Militarisierung des Konflikts (die eingesetzte Gendarmerie bildet neben Marine, Luftwaffe und Heer das vierte Korps der französischen Armee) ist unausweichlich.

Übrigens bekommt Frankreich gerade auch eine Rechnung für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht präsentiert. Als "Schule der Nation" war die Armee ja eine durchaus effektive Institution der bürgerlichen Gesellschaft. Norman Angel hat 1912 in The Great Illusion argumentiert, physische Gewalt sei dann keine Gewalt, wenn sie zur Abwehr physischer Gewalt diene. Vermutlich brauchen die neuen Bürgerwehren diesen Trost.

Mein Vorschlag klingt paradox, aber man prüfe ihn bitte in zwanzig Jahren: Wenn die Reintegration der Marginalisierten gelingen soll, muss Europa erst einmal kräftig Gefängnisse bauen! Modernste Haftanstalten im Inneren, abgestufte Auffang- und Schulungslager in den Pufferzonen des Maghreb, Russlands, der Ukraine und der Türkei. Denn: Was sind die Alternativen, wenn Arbeitswelt und Familie als Sozialisationsfaktoren in ein friedliches Zusammenleben versagen? - Zivile und polizeiliche Maßnahmen des Staates.

Ich würde ja gerne zur Sachlichkeit mahnen und auf den Oberton des Apokalyptischen verzichten. Aber dazu muss sich die Politik endlich über die Konsequenzen weiterer Fehlschläge im europäischen Sozialprozess klar werden.

Offensichtlich braucht die nach innen schutzlos gewordene Gesellschaft demnächst wieder "Besserungs- und Correctionsanstalten" für abweichendes Verhalten, natürlich in neuem psychodynamischem Outfit. So viel Zukunftsinvest ist für die politische Klasse, die uns heute repräsentiert, schon zu viel! Solche Schuhe sind für die Herren, die täglich auf Business-Tickets nach Brüssel jetten, um Nummern zu groß!

Die EU-Gesellschaften benötigen zudem den flächendeckenden Ausbau der Grundsicherung, die heute noch euphemistisch als "Arbeitslosengeld", "Sozialhilfe" oder "Karenzstütze" daherkommt. Das Nein der Franzosen zur EU-Verfassung und die brennenden Städte ein halbes Jahr danach, beides sendet dasselbe Signal: "Der Kaiser ist nackt, alle können es sehen." (DER STANDARD, Printausgabe, 12.11.2005)