Doch, sie darf sich freuen, und sie tut es auch, wenngleich in der ihr eigenen sehr zurückhaltenden Art. Nach nur wenigen Wochen Verhandlungszeit hat Angela Merkel einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Am 22. November soll sie zur ersten Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt werden. Da kann man ein paar Tage vorher schon einmal zufrieden lächeln und lachen. Merkel weiß ohnehin: Kaum hat sie im Kanzleramt an Gerhard Schröders gebrauchtem Mahagoni-Schreibtisch Platz genommen, geht es gleich bitter ernst zur Tagesordnung.

Merkel setzt gemeinsam mit ihrem roten Partner Franz Müntefering alles auf eine Karte. Rekordschulden zur Ankurbelung der Konjunktur heißt dieses Programm. Schulden sind die Steuern von morgen, trommelte die Union noch vor wenigen Wochen im Wahlkampf. Weil der zuletzt so glücklose Finanzminister Hans Eichel (SPD) dauernd gegen die Maastricht-Kriterien verstieß, reichte die Union zuletzt beim Bundesverfassungsgericht Klage ein.

Und jetzt? Jetzt macht sie selber Schulden, als gäbe es kein Morgen. Schon liegen die Ökonomen im Streit, ob dies eine ganz gefinkelte Strategie ist, um die lahme Wirtschaft in Gang zu bringen, oder schlicht politischer Irrsinn.

Man päppelt den Patienten Deutschland 2006 noch ein wenig auf, indem man ihn mit der Mehrwertsteuererhöhung noch verschont und hofft, dass die Bürgerinnen und Bürger scharenweise in die Kaufhäuser und Möbelläden der Republik einfallen. Im Jahr darauf greifen Frau Oberärztin Merkel und ihr Assistenzarzt Müntefering dann aber zum Skalpell und gehen die dringend nötige Reform der Kranken- und der Pflegeversicherung an. So stellt es sich die große Koalition vor.

Diejenigen, die dieser Strategie misstrauen, verweisen - nicht zu Unrecht - auf den Wahlkampf. Da sprach eine gewisse Kanzlerkandidatin Merkel am 7. Juli den schönen Satz: "Steuererhöhungen zum Stopfen von Haushaltslöchern schaden der Konjunktur. Das ist mit uns nicht zu machen." Oder Wahlkämpfer Müntefering am 19. August: "Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Nicht in nächster Zeit." Jetzt, wo sie vor dem Machtwechsel stehen, agieren beide nach dem Motto von CDU-Urkanzler Konrad Adenauer: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?"

Als Erklärung (oder Ausrede) heißt es: Wir haben nicht gewusst, wie dramatisch die finanzielle Lage ist, aber jetzt wollen wir nur noch nach vorne schauen. Kein Wunder, beim Blick zurück müssten beide Volksparteien bekennen, dass jede von ihnen zur vorherrschenden Misere beigetragen hat. Zuerst hat Helmut Kohl Schulden machen lassen, und die Sozialdemokraten blockierten eine Steuerreform. Dann machte Eichel viele neue Schulden, und die Union wollte seinem Programm zum Subventionsabbau nicht zustimmen.

In der ganzen Dramatik liegt jedoch eine gewisse Chance: Denn jetzt müssen Union und SPD die Sanierung des Haushalts gemeinsam angehen. Mitgefangen, mitgehangen, heißt es nun für beide. Die Zeit der taktischen Spielchen ist vorbei. Wer das bei einer Neuverschuldung von 41 Milliarden Euro immer noch nicht begriffen hat, handelt wirklich fahrlässig.

Merkel weiß, dass sie im Kanzleramt nur diese eine Chance hat. Bessert sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands nicht, findet die Jobmisere nicht bald ein Ende, dann kann sie ihre Koffer packen. Immerhin: Merkel handelte in einem Punkt nicht so unklug wie Schröder. Der hat beim angestrebten Abbau der Arbeitslosigkeit eine konkrete Zielmarke von 3,5 Millionen genannt - was dann von den real existierenden fünf Millionen Menschen ohne Beschäftigung doch etwas weit entfernt lag.

Schwierig ist für Merkel, dass ihr viele Deutsche angesichts der steuerlichen Kehrtwenden nach Ende des Wahlkampfes nicht mehr glauben und sie deren Vertrauen erst gewinnen muss. Aber das hat sie sich selbst eingebrockt, dafür kann sie ihren Vorgänger nun wirklich nicht verantwortlich machen. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.11.2005)