STANDARD: Was ist das jetzt, was wir erleben: ein Vorstadtaufruhr, eine Rebellion?

Vidal: Ich spreche lieber von Zusammenstößen von Jugendlichen und Polizei. Für eine Explosion ist ein Pulverfass und ein Zündfunke nötig. Das Zündfunke waren die Bemerkungen von Innenminister Sarkozy, die dann ih- rerseits die Polizisten zu Provokationen ermuntert haben.

STANDARD: Und das Pulverfass?

Vidal: Sind dreißig Jahre verfehlter Banlieue-Politik. Dort sind heute 95 Prozent Araber oder Schwarze. Es geht um ein Problem des Postkolonialismus in Kombination mit einem sozialen Problem.

STANDARD: Wie manifestiert sich das im Alltag ?

Vidal: Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 23 Prozent, in diesen Vierteln bis zu 50. Jean-Fran¸cois Amadieu von der Universität Paris-I hat 2004 eine Studie mit fingierten Stellenbewerbungen gemacht. Die einen "Bewerber" hatten französische Namen, die anderen maghrebinische.

In der ersten Gruppe erhielten 29 Prozent positive Antworten, die aus der zweiten 5. Nur Behinderte schnitten noch schlechter ab. Ich zahle bei meinem Hausarzt für eine Behandlung 32 Euro, 20 Euro bekomme ich von der Sozialversicherung refundiert. Für viele Banlieuebewohner ist selbst das unerschwinglich.

STANDARD: Beackern Islamisten das Feld in den Banlieues?

Vidal: Es gibt Jugendliche, für die der Islam eine identitätsstiftende Funktion hat, aber man sollte das nicht überbewerten. Die islamistisch gesteuerte Revolte, von der einige rechte Abgeordnete fantasiert haben, ist Fiktion.

STANDARD: Was müßte zur Entschärfung der Lage geschehen?

Vidal: Vor allem die Wiederherstellung einer durchmischten Gesellschaft (mixité).

STANDARD: Daran arbeitet die Politik ja seit Jahrzehnten. Warum ohne Fortschritte?

Vidal: Weil das Problem einfach zu groß ist. Man müsste auf Jahrzehnte hinaus Dutzende Milliarden Euro ausgeben. Zudem muss sich Frankreich bei seiner Budgetpolitik an die neoliberalen EU-Vorgaben halten, wo die Banlieues keinerlei Priorität haben. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.11.2005)