Es ist ein amerikanisches Kind des Kalten Krieges, das sich nach dessen Ende auf wundersame Weise in eine Art weltweite Friedensdividende verwandelte: Das Internet, das aus einem militärischen US-Forschungsprojekt Anfang der 60er-Jahre hervorging. Aber obwohl das Netz funktioniert und Menschen rund um den Globus erlaubt, sich freier als je zuvor zu äußern, erlebt es jetzt die Wiedergeburt eines neuen kalten Krieges: Den Kampf um die Kontrolle seiner Verwaltungsstruktur.

Katasteramt des Internets

Anders als so sichtbare Zielscheiben der US-Alltagskultur wie McDonald's-Restaurants und Starbucks-Kaffeehäuser ist "Icann", die "Internet Corporation for Assigned Names and Numbers" ein obskures Ziel der Auseinandersetzung. 1998 unter der Clinton-Regierung als private Stiftung mit Sitz in Kalifornien gegründet, ist Icann quasi das Katasteramt des Internets: Es legt das "Domain Name System" und die dahinter stehenden numerischen Adressen fest, die für den Datenverkehr im Netz notwendig sind - nur bekannt durch Kürzel in Internetadresse wie .com, .at oder das jüngere .eu.

US-Kontrolle

Icann gilt neuerdings die Begehrlichkeit von Regierungen in aller Welt wie von Aktivisten, die darin das nächste Schlachtfeld im Kampf gegen US-Hegemonie und Globalisierung sehen. Vertreter der EU unter dem derzeitigen britischen Vorsitz sind sich mit Delegierten aus Brasilien, China und Iran wie praktisch allen anderen Staaten der Welt einig: Die US-Kontrolle über Icann muss fallen.

"Erfolgreiche Verwaltung"

Dabei, paradoxerweise, wird die effiziente Tätigkeit von Icann durchwegs anerkannt: "Icann leistet sehr gute Arbeit, (. . .) wir sollten nicht versuchen, dieses erfolgreiche Beispiel einer Verwaltung in privaten Händen zu ändern", schreibt die für die Informationsgesellschaft zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding in einem Kommentar vor Beginn der Konferenz in Tunis. Auch sollten die Regierungen "nicht an der alltäglichen Verwaltung des Netzes beteiligt werden". Stein des Anstoßes ist vor allem der Umstand, dass Icann seine Tätigkeit auf Basis eines "Memorandums of Understanding" mit dem US-Handelsministerium ausübt - womit den USA ein Aufsichtsrecht über diese Tätigkeit bleibt.

Und während bei der Gründung von der Regierung Clinton eine völlige Privatisierung in Aussicht gestellt wurde, hat nunmehr die Regierung Bush erklärt, dass sie auf das Aufsichtsrecht aus "historischen Gründen" nicht verzichten wolle. Die Zeit drängt: 2006 steht der Vertrag zwischen der US-Regierung und Icann zur Erneuerung an. "Stakeholder"-Aufsicht Was an Stelle der US-Aufsicht folgen soll, darüber gehen die Meinungen der antiamerikanischen Allianz auseinander.

Die EU will eine neue Organisation schaffen, die mit den Icann-Aufgaben betraut werden soll. Diese Rolle könnte die Internationale Telekommunikations-Union (ITU) übernehmen, die für den Telefonverkehr zuständige, UN-artig organisierte staatliche Organisation, die den Gipfel in Tunis ausrichtet. Häufig ist davon die Rede, dass alle "Stakeholders" - Staaten wie Unternehmen und die Zivilgesellschaft - an der Verwaltung beteiligt werden sollen.

Namenssystem

Ein konkreter Vorschlag, wie dies praktikabel erfolgen kann, liegt jedoch derzeit nicht auf dem Tisch. Bei einer im September in Genf, am Sitz der ITU, abgehaltenen Konferenz vor Tunis, verlangten jedoch eine Reihe von Ländern den Ausschluss von Vertretern nicht staatlicher Organisationen und der Wirtschaft. In einer Szene, die an Nikita Chruschtschows schuhklopfenden UN-Auftritt erinnerte, ging die Wortmeldung eines Vertreters der Industrie im Klopfen brasilianischer und chinesischer Delegierter unter.

Ohnedies ist fraglich, wie viel Kontrolle das Namenssystem und damit Icann überhaupt ausüben kann. Denn Internet ist ein dezentral gebautes System; es gibt keinen Schalter, den man umlegen kann, um weltweit Einfluss auszuüben - ein Umstand, dessen sich hunderte Millionen Internetnutzer in Anbetracht einer schier nicht einzudämmenden Flut an Spam, Pornografie und anderer unerwünschter Inhalte ebenso schmerzhaft bewusst sind wie autoritäre Regierungen, die ihre Kritiker nur zum Verstummen bringen können, wenn sie ihnen Computer und Anschluss entziehen.

Namensstruktur

"Nicht der Herzschlag" "Das Namenssystem ist nicht der Herzschlag des Internets", sagt Leonard Kleinrock, Computerwissenschafter an der Universität Kalifornien, der Pionierarbeit bei der Entwicklung des Paketdatenverkehrs als Basis des Internet leistete. Mit der von Icann verwalteten Namensstruktur kommen Benutzer im Google-Zeitalter ohnedies immer weniger in Kontakt: Denn wer eine Adresse nicht kennt, benutzt eine Suchmaschine um die jeweiligen Seiten zu finden.

So drohen im Getöse der politischen Auseinandersetzung, der sich 17.000 Teilnehmer von Mittwoch bis Freitag in Tunis widmen werden, andere wichtige Anliegen unterzugehen: Vor allem die Frage, wie ärmere Regionen der Welt zu Nutznießern anstatt zu Verlierern der Informationsgesellschaft werden können. Eine Initiative: Ein 100-Dollar-Laptop für Entwicklungsländer, dessen Prototyp von Nicholas Negroponte vom Massachussetts Institute of Technology (MIT) zusammen mit UN-Generalsekreät Kofi Annan vorgestellt werden soll.

Und noch ein weiterer Konflikt wird die Teilnehmer beschäftigen: Der Protest von Menschenrechtsaktivisten gegen das autoritäre tunesische Regime. (Helmut Spudich/DER STANDARD, Printausgabe, 16.11.2005)