In seinem "Buch für freie Geister: Menschliches, Allzumenschliches" schrieb Friedrich Nietzsche den zeitlos gültigen Aphorismus über die Vertreter der Wahrheit: "Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist." Deshalb gehört unbestritten Mut dazu, auch zu unpassender Zeit die Wahrheit zu sagen. Zu diesen Mutigen gehört der slowenische Präsident Janez Drnovsek, der dieser Tage zum zweiten Mal innerhalb einiger Wochen in ein Wespennest der Balkanpolitik gestochen hat. Bereits Mitte Oktober schlug Drnovsek in Briefen an UN-Generalsekretär Annan, EU-Kommissionspräsident Barroso und an die Kosovo-Kontaktgruppe vor, die Rechte der serbischen Minderheit international zu garantieren und das überwiegend von Albanern bewohnte UN-Protektorat de facto in die staatliche Unabhängigkeit zu entlassen.

Die serbischen Politiker stünden vor der Wahl, die Provinz entweder als unabhängigen Staat anzuerkennen oder zu versuchen, sie abermals unter ihre Kontrolle zu bekommen, was unweigerlich zu einem weiteren Krieg führen würde. Trotz scharfer serbischer Reaktionen wiederholte Drnovsek seine Ansichten am Wochenende während eines Besuches von serbisch-orthodoxen Klöstern im Kosovo, denen in seinem Plan ein Sonderstatut eingeräumt werden sollte.

In einer ganz anderen Umgebung ist es Staatsoperndirektor Ioan Holender gelungen, bei der 50- Jahr-Feier der Staatsopern- Wiedereröffnung durch offene Worte über die verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit seines Hauses einen Teil der österreichischen Öffentlichkeit zu erzürnen. Postwendend kam die Antwort vom berühmten Sohn jenes großen Dirigenten, dessen Hitlergruß am Pult als letzter Staatsoperndirektor im Dritten Reich (und erster Direktor 1955) in der Festrede erwähnt wurde: "Holender soll den Mund halten." Am gleichen Tag riet ein Glossenschreiber der Presse dem Operndirektor (frei nach Kreisky): "Lernen S' ein bissl Geschichte", um zum Schluss, auf die jüdische Herkunft Holenders anspielend, den berüchtigten Spruch Luegers abwandelnd zu bemerken: "Wer a Nazi war, bestimm i ..."

Was hat Holender gesagt? Kurz gefasst das, was zum Beispiel Oliver Rathkolb in seinem Buch "Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im ,Dritten Reich‘" über einen der "politisch anerkanntesten Dirigenten" im Detail geschildert hat. Außerdem erinnerte er an die Säuberung von 30 Mitgliedern des Ensembles, an das Schicksal von Bruno Walter und Josef Krips. Was immer man von seinen Leistungen als langjähriger Chef des Hauses halten mag – Ioan Holender hat gerade in diesem Fall seltene Zivilcourage bewiesen, und es ist traurig, dass ein so verdienter Mann wie Karlheinz Böhm die Augen vor den braunen Flecken in der großen Karriere seines Vaters verschließen will.

Das dritte Beispiel für persönlichen Mut liefert die bedeutende deutsche Schriftstellerin Carola Stern, die diese Woche ihren 80. Geburtstag feiert: Die berühmte Rundfunk- und TV-Kommentatorin, Mitbegründerin von Amnesty International und Autorin wichtiger politischer Bücher, hat in ihrem autobiografischen Lebensbericht ("Doppelleben") schonungslos ihren mehrfachen "Identitätswechsel" geschildert – von der begeisterten NS-Jungmädel-Gruppenleiterin zur Parteihochschule in der DDR, aus der sie dann als Mitarbeiterin des US-Geheimdienstes Hals über Kopf flüchten musste, um schließlich im Westen ein neues Leben zu beginnen.

Nicht nur ihr schriftstellerisches Gesamtwerk, sondern vor allem ihre so aufrichtige Selbstprüfung in Umbruchzeiten verdient am runden Geburtstag besonderen Respekt. (DER STANDARD, Print, 17.11.2005)