Forschung & Geschlecht
Gene sind nicht alles
Mit dem Zirkel gemessen: Umwelt formt Gestalt
Wien - "Die körperliche Entwicklung von Kindern ist nicht, wie uns heute immer
öfter und lauter erzählt wird, von den Genen determiniert", widerspricht der
Wiener Psychologe Franz Schaudy gegenüber dem STANDARD, "sondern stark von
der Umwelt bestimmt: Die Kinder entwickeln ihre Körpergestalt nach dem Vorbild
der Eltern, ganz gleich, ob es die natürlichen oder Adoptiveltern sind."
Schaudys Befund stützt sich auf einen weltweit einmaligen Personenkreis, auf
Kinder, die im Nachkriegs-Wien zur Adoption kamen und ganz nach Zufall verteilt
wurden - ohne Mitrede durch die adoptionswilligen Paare, wie sie heute
praktiziert wird. Schaudy, dem zunächst im Bekanntenkreis frappierende
Ähnlichkeiten von Adoptiveltern und -kindern aufgefallen waren, nutzte in den
70er-Jahren die seltene Gelegenheit und spürte 30 Familien mit Adoptivkindern
auf.
Anlage oder Umwelt?
Nicht nur in wertfreier wissenschaftlicher Absicht. "In den 70er-Jahren lief die
Auseinandersetzung Anlage versus Umwelt auch in der Psychologie ganz heiß",
erinnert sich Schaudy, "dann ist sie abgeflaut und kam in den letzten Jahren
wieder hoch", teils weil die Gentechnik täglich von neuen Determinanten berichtet
- selbst für Verhalten -, teils weil Gesellschaften sich aus der Verantwortung für
ihre Mitglieder zurückziehen.
Deshalb hat Schaudy seine Daten wieder aus der Schublade geholt - er musste
aus privaten Gründen die wissenschaftliche Arbeit lange unterbrechen - und nun
zu einer Dissertation verdichtet: Er hat die Körper von Adoptivkindern und -eltern
exakt vermessen und mit einer Kontrollgruppe "normaler" Familien verglichen.
Beelzebub gegen Teufel
"Ich wollte den Teufel mit Beelzebub austreiben", erinnert er sich an die Wahl
seiner Methode, "und habe die Sheldonschen ,Somatotypen' verwendet." William
Sheldon war einer in der langen Reihe jener Forscher, die den Charakter direkt
aus dem Körperbau ableiten wollten. Dazu hat er in den 20er-Jahren eine exakte
Methode entwickelt, die Körper an 17 Stellen misst und die Ergebnisse zu
Gestalten - bzw. ihrer Annäherung an verallgemeinerte Typen - zusammenfasst.
Schaudy hat dieses Verfahren übernommen - "ich habe mit dem Körperzirkel
gemessen" -, aber die Blickrichtung umgedreht: In seiner Hypothese gab es keine
Determination - der Gestalt durch die Gene -, sondern über den genetischen
Prädispositionen ein weit gespanntes Freiheitsfeld für die Formung der
Körpergestalt durch Umwelteinflüsse. Das hat sich auch bestätigt: "Adoptivkinder
sind ihren Eltern - ohne jede genetische Verwandtschaft - genauso ähnlich wie
natürliche den ihren, mit denen sie je 50 Prozent der Gene teilen."
Jürgen Langenbach
für
Der Standard