Wissenschaften brauchen Philosophie. Nämlich immer dann, wenn sie an ihre eigenen methodischen Grenzen stoßen. Welche Art der Reflexion dann sinnvoll ist, versucht gerade ein vom Wissenschaftsfonds gefördertes Grazer Projekt herauszuarbeiten.

Noch vor 200 Jahren waren die Wissenschaften nett - aber auch nicht mehr. Sie lieferten brauchbare physikalische Gesetze und Naturbeschreibungen; für die angeblich wirklichen Welterklärungen fühlte sich aber die Philosophie zuständig. Heute hat sich die Situation drastisch gewandelt: Die Philosophie ist de facto marginalisiert; selbst in Gebieten wie der Ethik versuchen ihr Wissenschaften wie die Ökonomie den Rang abzulaufen.

"Dabei wird die Philosophie gerade heute gebraucht", erklärt Harald A. Wiltsche, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Grazer Philosophischen Institut und der Kopf hinter dem Projekt "Eine phänomenologisch begründete Wissenschaftssystematik". Wofür er auch rasch ein Beispiel bei der Hand hat: "In der Neurophysiologie versucht man heute mit Nachdruck, kognitive Phänomene im Labor zu erforschen. Das Denken soll gleichsam direkt im Gehirn beobachtet werden." Was für Wiltsche auch völlig legitim ist, weil Denken natürlich mit den physiologischen Prozessen zu tun hat, die sich in einer Laborsituation beobachten lassen.

"Allerdings muss man sich auch fragen, was man beim besten Willen nie in der Laborsituation wird sehen können, weil es der Laborblick aufgrund seiner Eigenheiten einfach nicht sehen kann." Die subjektive Erfahrung des Denkens etwa ist ein solches Phänomen, für das jedes Laborexperiment, das auf der physiologisch-physikalischen Ebene ansetzt, blind sein muss. Denn die ist nur im Denken selbst zu erleben, und zwar nicht nur als "emotionales Beiwerk" der Logik, sondern als wesentlich dafür verantwortlich, ob einem Denken behagt oder nicht und ob das Denken folglich flott weiter geht oder nur zögerlich.

Genau an diese Fakten zu erinnern und sie festzuhalten, ist nun Aufgabe der Philosophie. Was prinzipiell nichts Neues ist, weil sich eine ähnliche Bestimmung der Philosophie schon bei Klassikern wie Karl Popper oder Martha Nussbaum findet. Wirkliches Neuland betritt Wiltsche vielmehr damit, dass er dieses Ausloten der "methodischen Grenzen" den Forscherinnen und Forschern der einzelnen Fachdisziplinen überträgt: "Mir geht es in dem Projekt darum, den Fachwissenschaftern ein Werkzeug der Kritik zu liefern, das es ihnen ermöglicht, selbst herauszuarbeiten, wie weit eine Methode ausgeweitet werden darf und wo sie ihre Grenzen hat." Der Philosoph als Coach also, der Fachwissenschafter beim "Methoden-Selbstmanagement" hilft. Das "Werkzeug der Kritik", das Wiltsche im Sinn hat, existiert dabei schon: Es ist die phänomenologische Methode. Was es allerdings noch nicht gibt, ist deren Darstellung und Etablierung als eben eine solche "Meta-Methode", die in den verschiedensten Wissenschaftszweigen ein "Methoden-Selbstmanagement" erlaubt. Mit anderen Worten: Es ist ein Stück "Fundierungsarbeit", das Wiltsche in Graz gerade leistet. Genau genommen geht es darum zu zeigen, dass die verschiedenen wissenschaftlichen Methoden und die phänomenologische Methode den gleichen Ursprung haben - und dass dementsprechend die Phänomenologie durchaus die Möglichkeit hat, in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als Meta-Methode zum Einsatz zu kommen. Laut Wiltsche stehen "Phänomenologie und Einzelwissenschaften auf der gleichen Basis, nämlich auf der der Lebenswelt". Mit Letzterer ist jene "vortheoretische Erfahrungswelt" gemeint, die gleichsam unseren Lebenskontext ausmacht und unsere Begrifflichkeit und unser Denken prägt. Dieser Lebenswelt können wir nun mit der "natürlichen Einstellung" begegnen, die sich dadurch auszeichnet, dass wir uns im Denken auf die Gegenstände dieser Lebenswelt beziehen.

"Oder wir wechseln die Einstellung und schauen uns an, was wir alles voraussetzen, wenn wir uns etwa mit einem Baum beschäftigen." Das, sagt Wiltsche, ist dann die "phänomenologische Einstellung, die danach fragt, unter welchen Bedingungen überhaupt gedacht und beobachtet wird." Wo "phänomenologisch gearbeitet wird", wird aber auch versucht, immer mehr von diesen Vorbedingungen wegzulassen, indem man zum Beispiel nicht dabei stehen bleibt zu sagen, "ich sehe ein blaues Haus", sondern auch den lebensweltlich bestimmten und geprägten Begriff Haus weglässt und vielleicht nur mehr "ich sehe ein Blaues" sagt.

Und sogar an diesem Punkt macht der Phänomenologe nicht Halt; stattdessen wird das ganze (Sprach-)System hinterfragt, mit dem dieser Satz formuliert wurde. "Was dann zur Folge hat, dass sich der Blick verändert - und man nicht mehr nach dem Haus, sondern vielleicht nach Wahrnehmungserlebnissen fragt, die mit diesem Haus verbunden sind. Oder man rückt die sozialen Faktoren in den Mittelpunkt, die ein Phänomen wie ein Haus überhaupt erst ermöglichen." Das ist dann genau der Moment, in dem deutlich wird, dass alle wissenschaftlichen Methoden auf dem gleichen Grund stehen und gleichsam nur verschiedene Perspektiven sind; nämlich miteinander verwobene Perspektiven, die einander ergänzen und nicht einfach beliebig oder sonst was sind.

Ebenso wird an diesem Punkt auch klar, wieso es immer wieder dazu kommt, dass ein Wissenschafter meint, im Labor beispielsweise alles über unsere kognitiven Fähigkeiten herausfinden zu können: "Weil man genau diesen Bereich der verschiedenen Einstellungen übersieht und stattdessen den Fehler macht, sich mit einer Einstellung allen möglichen Bedingungszusammenhängen zu nähern." Ist das alles dargestellt und begründet, "ist eine phänomenologisch begründete Wissenschaftssystematik" gegeben; eine Fundierung der Phänomenologie als kritische Methode für die Einzelwissenschaften. Bei dieser Fundierung setzt im Grazer Philosophischen Institut übrigens eine Reihe von Projekten an, die etwa die Kooperation mit der Med-Uni Graz suchen.

Wie auch unter der neuen Institutsleiterin Sonja Rinofner-Kreidl ein eigener Fakultätsschwerpunkt "Naturalität und Kulturalität" geplant ist, der sich um Phänomenologie als Meta-Methode dreht. Außerdem wurde bereits im vergangenen Winter zusammen mit der Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie das Grundsatzprogramm für ein Zentrum für Subjektivitätsforschung formuliert, in dem genau diese phänomenologische Diskussion einen Schwerpunkt bildet - und das einen entscheidenden Anstoß dazu liefern soll, ein Comeback der Philosophie als Methoden-Coach zu ermöglichen. (Christian Eigner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19./20. 11. 2005)