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"So wahr mir Gott helfe", Kanzlerin Merkel fügte - im Gegensatz zu ihrem Vorgänger - die freiwillige religiösen Beteuerungsformel an den Schluss ihrer Vereidigungsformal an.

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Gratulationen

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Freude über das klare Ergebnis

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Der Vorgänger gratuliert seiner Nachfolgerin

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Bitte, wo sitzt der denn?" "Da ganz vorne links." "Nein, das ist doch der Bruder." Es ist kurz vor zehn Uhr im Berliner Reichstag und die unzähligen Fotografen sind irritiert. Angela Merkel, an ihrem großen Tag ganz in Schwarz gekleidet, haben sie schon alle Dutzende Male fotografiert. Merkel sitzt, Merkel lacht, Merkel reibt sich die Hände, Merkel plaudert – alles im Kasten.

Jetzt aber soll Joachim Sauer endlich abgelichtet werden. Bloß: Merkels Mann ist gar nicht da. Der extrem öffentlichkeitsscheue Quantenphysiker schaut sich die Wahl der ersten Bundeskanzlerin Deutschlands lieber zu Hause im Fernsehen an. "Das gibt's doch nicht", sagt einer ungläubig.

Doch, das gibt es. An diesem Tag erlebt Deutschland viele Premieren. Merkel wird zur ersten Frau im Kanzleramt gewählt, sie ist auch noch die erste Regierungschefin aus dem Osten, mit ihren 51 Jahren noch dazu die jüngste und sie schafft das alles ohne ihren Mann.

Um zehn Uhr ruft Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) den Tagesordnungspunkt 1 auf: Wahl der Kanzlerin. Es dauert ein wenig, bis alle 612 Abgeordneten (geheim) ihre Stimme abgegeben haben und in dieser Zeit steigt die Spannung. Dass Merkel gewählt wird, steht außer Zweifel. Aber wie viele der 448 schwarz-roten Stimmen wird sie bekommen? "Alles ab 400 ist gut", raunen die Koalitionäre hinter vorgehaltener Hand.

Um 10.49 Uhr huscht ein kleiner Schatten über Merkels Gesicht. Per SMS hat sie das Wahlergebnis erhalten: 397 Stimmen. Als Lammert die Zahl zwei Minuten später offiziell verkündet, lächelt sie verhalten, fast schüchtern – während die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD zu klatschen beginnen. Es ist ein warmer, freundlicher und res^pektvoller Applaus, kein triumphaler. Einer, der zum Ergebnis passt.

Erster Gratulant ist Altkanzler Gerhard Schröder (SPD). Er reicht Merkel schon die Hand, bevor Bundestagspräsident Lammert die Zahl der Neinstimmen nennen kann – nämlich 202. Applaus bei der Linkspartei, als er dies tut. "Bis zu diesem Augenblick war die Wahl geheim", ätzt Lammert und hat noch einen Lacher auf seiner Seite, als er sich erneut an Merkel wendet, die bereits einen Blumenstrauß und eine Hand nach der anderen entgegennehmen muss: Er habe "den begründeten Eindruck", dass die CDU- Chefin die Wahl annehme. "Herr Präsident, ich nehme die Wahl an", erwidert Merkel mit fester Stimme.

Es folgt eine erste Sitzungsunterbrechung, und in dieser entfaltet sich wuselige Geschäftigkeit zu ebener Erde und im ersten Stock. Oben, auf der Zuschauertribüne, muss man fast Mitleid mit Herlind und Horst Kasner haben. Merkels Eltern werden von Kameraleuten nahezu erdrückt. Sie sollen sich spontan freuen und passende Sätze sagen. Sie wollen aber nicht. "Ich sag nichts", presst Mutter Kasner hervor, und Merkels Vater versteckt sich hinter einem breiten Rücken. Schnell werden sie nach draußen eskortiert, vor ihnen liegt jetzt ein Mittagessen mit Merkel und deren engsten Freunden und Kollegen. Immerhin, Bruder Markus kommentiert die Wahl seiner Schwester lakonisch: "Es ist so ausgegangen, wie ich es erwartet habe."

Das gleiche Thema wird im Parterre, auf Ebene des Plenarsaales, diskutiert. "Eine so große Zahl von Neinstimmen ist ein Zeichen, dass das Gebäude der neuen Regierung brüchiger ist, als sie behauptet", tönt FDP-Chef Guido Westerwelle in jedes Mikrofon, das sich ihm entgegenreckt.

Peter Struck, am Montagmorgen noch Verteidigungsminister, am Dienstag schon neuer Chef der SPD-Fraktion, sieht das natürlich anders: "Das ist ein ganz ordentlicher Anfang, und wir werden ganz ordentlich weitermachen." Sein neues CDU-Visavis, Fraktionsvorsitzender Volker Kauder, sieht gar einen "hervorragenden Start".

Merkel bekommt derweil von Bundespräsident Horst Köhler ihre Ernennungsurkunde und leistet gegen 14 Uhr ihren Amtseid, schwört also, all ihre Kraft "dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen" und fügt – anders als Vorgänger Schröder – "so wahr mir Gott helfe" hinzu.

Köhler lässt sie nicht vergessen, dass nach diesem feierlichen Tag jede Menge Arbeit auf das neue Kabinett wartet. Bei der Ernennung der Unions- und SPD-Minister appelliert er, den Reformkurs fortzusetzen. Köhler: "Sie werden von vielen kritisiert werden. Das sollte Sie in Ihrem Einsatz für die Erneuerung anspornen."

Als endlich auch Minister und Ministerinnen vereidigt sind, geht es ab ins Kanzleramt. Für Schröder heißt es endgültig Abschied nehmen. Er übergibt Merkel das Kanzleramt, Adresse Willy-Brandt- Straße 1. (DER STANDARD, Printausgabe, Birgit Baumann, 23.11.2005).