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Auf der Bühne des Berliner Ensembles ließ Preisträger Gert Jonke den Geist Heinrich von Kleists in und durch sich wirken - und begeisterte das Publikum.

Foto: APA/dpa/Soeren Stache
...indem er das begeisterte Publikum an der Entstehung seiner Worterfindungen teilhaben ließ. In "... fünf kurzen Blitzlichtabbildungen aus unseren Tagen ..." wurde versucht, "... Herrn Kleist persönlich einen schönen Gruß zu schicken ..." Zwei dieser Miniaturen lesen Sie hier.

DRAMA

Ein Schauspieler hatte während der Proben für ein neues Stück plötzlich größte Schwierigkeiten folgender Natur: Er fühlte sich an mehreren Stellen des Textes wie von einem höheren Zwang bedroht, sein Spiel schlagartig erschrocken abzubrechen. Befragt, worin denn dieser Zwang ungefähr bestünde, antwortete er, er habe plötzlich ganz deutlich die Gewissheit, während er oben auf der Bühne spiele, sitze er auch gleichzeitig plötzlich im Zuschauerraum an einem bestimmten (immer dem gleichen) Sitzplatz unten und schaue sich von unten hinauf sehr missbilligend sich von unten im Zuschauerraum sitzend von jenem Platz aus immer wieder zu und zeige sich herauf eine lange Nase oder mache andere sich von unten hinauf ihn verhöhnende Faxen, und das tue ihm sehr weh, verursache ihm oben auf der Bühne durchaus auch eher immer unerträglichere Schmerzen, es wäre immer mehr zum Weinen und zum Heulen, er sei wütend, wolle sich hineinschmeißen. Dort, wo er in der Bestuhlung unten zu sitzen behauptete, während er oben spielte, saß aber keiner. Das untersuchte man ganz genau und mit allem Verständnis.

Mit Müh und Not kam er dann aber doch noch in die Endproben. Bei der Premiere ging alles gut. Man glaubte, die Sache sei nun ausgestanden, irgendwie bewältigt wohl und somit bald wieder auch zu vergessen. Man achtete aber darauf, dass jener Platz, wo der Schauspieler immer sich selbst gleichzeitig unten sitzend sich oben zuzuschauen während er spielte, dass jener Platz auch in den weiteren Vorstellungen sicherheitshalber von irgendwem besetzt wurde, und wenn von keinem zahlenden Besucher, dann wenigstens vom Feuerwehrmann oder vom Dienst habenden Theaterarzt, weil man weiterhin nicht fahrlässig zu werden sich vorgenommen hatte, und weil man gerade in Theaterkreisen solchen Sachen gegenüber einen geradezu abergläubischen Respekt zu zollen für wichtig hielt.

Aber eines Tages, als man schon gar nicht mehr daran dachte, ergriff am Abend der besagte Schauspieler in dieser Vorstellung plötzlich ohne Vorwarnung einen in seiner Reichweite als Requisit hingestellten Blumenstock, um ihn dann blitzschnell, aber sehr wohl exakt, präzise gezielt ins Publikum zu schleudern, natürlich genau in Richtung jenes Sitzplatzes. Dem dort sitzenden Zuschauer musste im Krankenhaus, wohin er sofort nach Unterbrechung der Vorstellung mit der Rettung eingeliefert wurde, ein Auge notoperativ entfernt werden. Es handelte sich um den jahrelang schon verschollenen vermissten und eigentlich auch schon vergessenen und aufgegebenen Zwillingsbruder des Schauspielers, nach dem der Schauspieler aber nach wie vor suchen ließ (um teures Geld von Detekteien, und der seinem Bruder nach wie vor wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte.)

Dem Schauspieler wurde natürlich sofort wegen publikumsgefährdenden Verhaltens fristlos gekündigt.

Die beiden Brüder schlugen sich fortan gemeinsam durchs Leben. Einmal traten sie in einem Varieté als lebendes Rätsel auf. Und zur Auflösung des Rätsels musste jener der beiden, der sich nicht die Schauspielkarriere selbst ruiniert hatte, sagen: "Von den eineiigen Zwillingen bin ich der Einäugige!" Um dann wie zum Beweis sich ins Gesicht greifend jenes seiner Augen, welches aus Glas war, aus dem Gesicht zu pflücken, und deutlich ersichtlich dem Publikum eine Zeit lang zeigend in die Luft zu halten.

>>> MAUTERN (Miniatur 2)

MAUTERN

Vor ein paar Jahren begegnete ich einem ansonsten flüchtigen Bekannten, der mir stets nach der erfolgten Konsumation einer ganz bestimmten Menge von Alkohol wie auf Knopfdruck immer wieder folgende gleiche Geschichte erzählte:

"In Mautern haben wir einen Lehrer gehabt, der hat sich immer, wenn ein Gewitter nahte, beim nächsten sperrangelweit aufgerissenen Fenster so weit wie möglich hinausgelehnt, und gerufen:

Blitz triff mich Blitz triff mich Blitz triff mich Blitz triff mich mit drohend gegen den Himmel erhobenen Fäusten Blitz triff mich Blitz triff mich Blitz triff mich Blitz triff mich!" "Ja, ja", unterbrach ich ihn, weniger weil er mich nervte, "und was war dann weiter, ja was geschah dann?", und ich schnitt ihm weniger das Wort ab, sondern vielmehr die spitzen Rufzeichenblitze hinter jedem einzelnen seiner sonst immer weiter sich fortsetzenden Rufe.

"Ja was denn wohl", erwiderte er, "getroffen hat er ihn, ja was denn sonst", rief er mir zurück wie aus der Pistole geschossen.

Ein paar Jahre später kam ich einmal zufällig nach Mautern. Eine Weile saß ich einem stillen Wirtshaus. Plötzlich stürzte sich der Wirt völlig überhastet aus dem Raum hinter der Theke und lief gezielt zu einem abseits gelegenen Fenster der Wirtshausstube, das er hastig wie ein Getriebener laut und polternd schloss.

"Zieht vielleicht ein Gewitter auf?", fragte ich den an mir vorbei zurück hinter die Theke sich verziehenden Wirt.

"Vor ein paar Jahren", erwiderte er, "wurde hier bei uns in Mautern plötzlich der Lehrer vom Blitz getroffen und erschlagen."

"Ja, ja", kommentierte ich, um anzudeuten, dass ich das alles ganz genau richtig verstanden hatte, "man sieht da draußen dieses fahle Wetterleuchten, wie es im Nebel absäuft, und wie den zerplatzenden Signallampen jetzt die Sicherungen durchgegangen sind, nicht wahr ..."

"Sie haben ganz Recht", sagte einer, der am Stammtisch saß, und der sich später als der vor Jahren neu hier eingesetzte Lehrer, der seinen verunglückten Vorgänger ersetzte, herausstellte, "Wenn Sie meinten, dass der Wirt vorhin das Fenster in ungesunder Hast und fast hysterisch zuknallte. Völlig überflüssig. Denn wir haben hier in Mautern schon ewig kein Gewitter mehr gehabt. Das klingt merkwürdig, ist aber eine Tatsache. Jedes Gewitter, und es sind viele in einem Sommer, die sich dem Dorf hierher nähern, schafft es nur bis zur Ortsgrenze, dann bleibt es plötzlich stehen, und dann schleicht es sich an den Ortsrändern leise vorbei, um dann talauswärts, von einem Platzregen begleitet, bis Radstadt zu rauschen, wo es wie ein Artillerieüberfall alles kurz und klein einschlagen und zerkrachen lassen wird. In Radstadt Ja. In Mautern nie."

"Aber einmal doch", sagte ich, "damals doch."

"Dieses eine Gewitter können Sie nicht dazurechnen", sagte der andere. "Das war nicht ganz sauber. Da wurde doch manipuliert. Und außerdem war Alkohol im Spiel. Und einer, der eine miese Schmiere abzog. (...) Nein, nein, dieses Gewitter zählt nicht. Wie Sie schon wissen, hat es hier in Mautern schon jahrelang kein einziges Gewitter gegeben. Aber das weiß nur ich. (...)

Ich führe Buch über jedes Gewitter und mache eine genaue Statistik, und von den Gewittern wird meine Arbeit geschätzt, und von den Wolken werde ich herunten gerne gesehen, wenn ich hier im Tal stehe, und sie wie ein Lotse oder Fahrdienstleiter weiterwinke, talauswärts Richtung Radstadt.

Ein paar Jahre mache ich das noch, aber dann will ich aufhören. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, wenn ich nicht mehr da bin, Nachfolger ist auf der ganzen Linie keiner in Sicht. Aber natürlich wird es auch ohne mich weiter gehen müssen."

Ob er glaube, dass es in Mautern, wenn er eines Tages nicht mehr da sein werde, dann womöglich hin und wieder ab und an das eine oder andere Gewitter geben werde, oder ob er glaube, dass es ohne ihn weiterhin gewitterlos hier weiterginge, wollte ich ihn abschließend noch fragen. Aber ich unterließ es. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.11.2005)