Berlin/Wien – Theoretisch hätte Angela Merkel aufgrund der
Richtlinienkompetenz, die
das deutsche Grundgesetz
dem Regierungschef zuweist,
vor allem in der Außenpolitik
relativ viel Spielraum. Praktisch wird dieser Spielraum
nicht nur durch den Koalitionspartner, sondern vor allem durch das Primat der Innenpolitik stark eingeschränkt. Denn nicht mit außenpolitischen Erfolgen wird
die Kanzlerin ihre Wiederwahl in spätestens vier Jahren
sicherstellen, sondern allein
durch eine positive Antwort
einer Mehrheit der Deutschen
auf die von ihr selbst so formulierte Frage: "Geht es mir heute besser als im Jahr 2005?"
Unter diesem Aspekt sind
auch die Signale zu werten,
die Merkel mit ihrer ersten
Auslandsreise setzt. Dass dem
Treffen mit Jacques Chirac Besuche bei Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und
EU-Kommissionspräsident
Jose Manuel Barroso in Brüssel folgten, sieht nach einer
Verschiebung der Gewichte
aus. Tatsächlich tragen die
Kanzlerin und ihr sozialdemokratischer Außenminister
Frank-Walter Steinmeier damit nur den schon unter Gerhard Schröder eingetretenen
Veränderungen Rechnung.
Im transatlantischen Verhältnis, institutionalisiert
durch die Nato, sind Berlin
und Washington nach den
schweren Turbulenzen des
Irakkonflikts zur Normalität
zurückgekehrt. Weitere atmosphärische Verbesserungen
können der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb willkommenen Flankenschutz geben.
Noch weit mehr von wirtschaftlichen Zwängen aber
wird Berlins künftige Europapolitik bestimmt. Im EU-Budgetstreit steht Deutschland als
größter Nettozahler der britischen Position viel näher als
jener Frankreichs, des Beziehers der größten Agrarsubventionen. In der von Chirac
jüngst wohl zutreffend diagnostizierten "Sinnkrise" des
Landes, das gleichzeitig politisch durch den Kampf um die
Präsidentennachfolge paralysiert ist, zeichnet sich damit
eine schwere Belastungsprobe
für die Achse Berlin–Paris ab. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, Print, 24.11.2005)