Klothilde Lebo: "Wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass es für die Entwicklung des zweisprachigen Kindes wichtig ist, dass es in beiden Sprachen gefördert wird."

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derStandard.at: Wie passiert Muttersprachenförderung in österreichischen Schulen?

Lebo: Die MuttersprachenlehrerInnen arbeiten häufig integrativ in der Klasse. Das ist vor allem in der ersten Volksschulklasse wichtig, weil viele SchülerInnen nichtdeutscher Muttersprache geringe Deutschkenntnisse haben. Diese unterstützt der/die MuttersprachenlehrerIn dabei, dem Unterricht besser folgen zu können und die Lerninhalte besser aufnehmen zu können. Dies geschieht sowohl in der Muttersprache als auch in der Unterrichtssprache. Auch für den Alphabetisierungsprozess ist diese Teamarbeit wichtig, und sie entlastet die klassenführenden LehrerInnen.

derStandard.at:Man spricht immer davon, dass junge MigrantInnen besser Deutsch lernen sollen, aber von der Muttersprachenförderunng hört man selten etwas – ist sie denn nicht wichtig?

Lebo: Wissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass es sowohl für die kognitive als auch für die affektive Entwicklung des zweisprachigen Kindes wichtig ist, dass es in beiden Sprachen gefördert wird. Die Kinder müssen sich in ihrer Muttersprache altersadäquat weiterentwickeln können. Nur so kann sichergestellt werden, dass sie auch die Zweitsprache bzw. die Unterrichtssprache gut erlernen. Ansonsten kann es leicht zu der sogenannten "Doppelten Halbsprachigkeit" (Semilingualismus) kommen. Auch für den Erwerb von weiteren Fremdsprachen ist die Muttersprachenförderung hilfreich.

derStandard.at:Wie viele Stunden muttersprachliche Förderung stehen in etwa zur Verfügung?

Lebo: Da ist auf der einen Seite der integrative Unterricht, der im Klassenverband stattfindet, und andererseits ein Kurssystem, bei dem man die Kinder aus der Klasse herausnimmt und in Gruppen unterrichtet. In der Volksschule haben die SchülerInnen ein Anrecht auf mindestens zwei Wochenstunden Unterricht in ihrer Muttersprache. Im Kindergarten werden zwar teilweise muttersprachliche AssistentInnen eingesetzt, aber ich habe gehört, dass es nur ganz wenige in Wien sind.

derStandard.at:Wird dem Thema Spracherwerb Ihrer Ansicht nach ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet?

Lebo: Was immer häufiger ein Problem darstellt, ist das soziale Umfeld. Die Sprachförderung zu Hause ist oft nicht mehr ausreichend gegeben. Das beschränkt sich aber keineswegs nur auf Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sondern ebenso auf deutsch-muttersprachliche Kinder. Meine Erfahrung nach sehr vielen Dienstjahren ist, dass die Eltern zunehmend weniger mit ihren Kinder sprechen und auch kaum differenziertere Gespräche führen. Meiner Meinung nach wird dem Thema Spracherwerb noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, besonders was die Realität der großen Anzahl zweisprachiger SchülerInnen betrifft.

derStandard.at: Fühlen sich die Jugendlichen mit Migrationshintergrund wohl mit ihrer Zweisprachigkeit?

Lebo: Das müsste man einmal diese konsequent befragen. Meiner Beobachtung nach, ist es immer wieder so, dass sich die Kinder und Jugendlichen selbst nicht bewusst sind, dass ihre Zweisprachigkeit einen Vorteil bedeutet. Erst vor kurzem hatte ich ein Erlebnis mit einem Schüler, der seine Muttersprache nicht gut beherrscht, weil er zu Hause nicht entsprechend gefördert wird. Ich fragte ihn, warum er mit seinen muttersprachlichen Mitschülern nicht in seiner Muttersprache redet anstatt im "schlechten" Deutsch. Seine Antwort war, dass es ihm peinlich sei.

Ich sehe es als einen Teil meiner Aufgabe, die Schüler darin zu bestärken, dass sie zu ihrer Herkunft und Sprache stehen und sich so besser entwickeln können. Das bedeutet nicht, dass ich ihnen sage, dass Deutsch unwichtig ist. Sondern im Gegenteil: "Du hast die Chance mit der Entwicklung deiner Muttersprache auch schneller und besser Deutsch zu lernen!"“

Natürlich würde da auch Elternarbeit dazugehören. Für die Eltern bedeutet zweisprachige Erziehung immer "Mehrarbeit" und Konsequenz. Doch sie können dem Kind wesentlich dazu helfen, sich wohl zu fühlen in der eigenen Haut.

derStandard.at:Wenn Jugendliche Englisch und Französisch beherrschen, lobt man die Mehrsprachigkeit, bei Türkisch oder Kroatisch ist das meist nicht der Fall – warum?

Lebo: Da gibt es mehrere Gründe. Erstens wollen Kinder grundsätzlich keine andere Sprache sprechen als die Mehrheit. Das stellt immer eine Art von Machtverhältnissen dar, weil es meist eine Mehrheitssprache und eine Minderheitensprache gibt. Kein Kind will anders sein als die anderen. Es braucht immer psychische Unterstützung und Selbstwertaufbau, um eine andere Sprache zu sprechen als die Mehrheit.

Zweitens gibt es Sprachen, die angeblich "mehr" oder "weniger" wert sind. Es ist leider so, dass viele meinen, Englisch sei wichtiger als Bosnisch, Kroatisch, Serbisch oder Türkisch und so weiter. Und das meinen auch viele Eltern, die es lieber sehen, dass ihr Kind Englisch lernt als dass es die Muttersprache – auch – weiterpraktiziert. Ich versuche in meiner Lehrtätigkeit diese Vorurteile abzubauen.

derStandard.at: Was ist mit dem Vorurteil, dass die ausländischen Jugendlichen erst recht unter sich bleiben und sich "absondern", wenn sie nicht Deutsch miteinander sprechen?

Lebo: Es ist sehr schwierig, den emotionalen Bereich zu untersuchen, aber auch da gilt: nicht nur der Selbstwert der Kinder steigt mit der Muttersprachenförderung und zeigt sich im positiven Verhalten, auch die Einstellung zur Mehrheitsbevölkerung wird damit positiv beeinflusst. Auch dazu gibt es wissenschaftliche Studien.

Ein Kind kann ein gesundes Ich eher dann entwickeln, wenn es die verschiedenen Ich-Identitäten (ethnische, sprachliche, religiöse) gut integrieren kann. Dann muss es auch nicht um seinen Stellenwert in der Gesellschaft kämpfen. Und wenn die Kinder und Jugendlichen beide Sprachen gut beherrrschen, sondern sie sich üblicherweise nicht ab. Natürlich spielen da auch verschiedene andere Faktoren, wie der soziale Faktor, eine Rolle. Doch das hat grundsätzlich nicht mit der Anderssprachigkeit zu tun.

derStandard.at: Der Muttersprachenunterricht ist ja nicht verpflichtend. Wird das Angebot dennoch gern angenommen?

Im Prinzip ja. Es melden sich aber doch immer wieder Kinder ab. In unserer Volksschule sind es von 48 Kindern glaube ich sechs. Das ist im Durchschnitt nicht viel. Ich habe bemerkt, dass auch sehr viel persönliche Arbeit durch die LehrerIn dahintersteckt, es geht um einen persönlichen Zugang zu den Kindern. Doch die endgültige Entscheidung liegt bei den Eltern.

derStandard.at: Ist es auch für Lehrer eine Herausforderung, mit Multikulturalität umzugehen?

Lebo:: Ja - Sie müssen da sehr viel Kompetenz haben. Man kann etwaige Defizite meist gar nicht übel nehmen, denn es gibt zu wenige Möglichkeiten, sich in dem Bereich Sprachenförderung und interkulturelle Bildung weiterzubilden. Es ist sehr wichtig, auch schon in der LehrerInnenausbildung eine weitreichende interkulturelle Bildung mitzugeben.

derStandard.at: Hier gäbe also noch Einiges zu tun?

Lebo: Wenn in einer Klasse mit 30 Schülern mehr als die Hälfte nicht zureichend die Unterrichtssprache beherrschen, ist das natürlich eine Herausforderung. Und dann müssen LehrInnen Unterstützung bekommen,etwa durch Begleit- oder TeamlehrerInnen und MuttersprachenlehrerInnen. Da gibt es jedenfalls ein massives Personalproblem. Wenn wir ein gutes Bildungssystem sicherstellen wollen, gehört hier mehr investiert.

derStandard.at: Inwieweit ist diese Investition in die Sprachbeherrschung für die Integration wichtig?

Lebo: A la longue ist das sehr wichtig, weil Migration ja nicht weniger wird. Sprache ist Hauptausdruck der menschlichen Persönlichkeit. Sprache ist nicht einfach ein System, sondern primär eine soziale Aktivität. Ohne Sprache können wir nicht kommunizieren, nicht interagieren und uns somit nicht sozialisieren, Bilingual-bikulturelle Förderung hilft dem Migranten bei der Lösung der Identitätsprobleme und hilft somit, einen befriedigenden Platz in der Gesellschaft zu finden

Auch für die LehrerInnen ist Persönlichkeitsbildung und interkulturelle Bildung immer mehr gefragt. Es wäre auch wichtig, für die MuttersprachenlehrerInnen eine systematische Begleitung und Fortbildung sicherzustellen. Nur dann können sie Brückenbauer zwischen den Kulturen sein. Momentan ist zu beobachten, dass im Bereich interkulturelle Bildung eher gestrichen wird, als zu investieren.