Vesna Goldsworthy: "Heimweh nach Nirgendwo. Eine Lebensgeschichte"
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. € 20,50/224 Seiten. Deuticke, Wien 2005

Buchcover: Deuticke
Danilo Ki sagte in seinem Pariser Exil einmal sinngemäß: "Wir sind ein Sonnenuntergang an der Adria, ein Glas Sliwowitz, ein politischer Skandal . . . aber Literatur?" Damit beklagte er die Tatsache, dass in seiner jugoslawischen Heimat die Kenntnis der großen Literaturen selbstverständlich sei, diese hingegen den kleinen Kulturen ebenso selbstverständlich Ignoranz entgegenbrächten. Vesna Goldsworthys Heimweh nach Nirgendwo ist das Produkt intellektueller und biografischer Voraussetzungen, die sich in vielem mit den Erfahrungen von Ki überlappen. Die Autorin emigrierte 1986 aufgrund eines "coup de foudre", jener Liebe, "vor der sich die Weltmeere teilen", mit ihrem Mann in dessen englische Heimat, also noch am Vorabend der jugoslawischen Katastrophe.

Äußerer Anlass zur Niederschrift der Memoiren ist die Diagnose Krebs. Auch wenn sich die Autorin in regelmäßigen Abständen dem Stadium ihrer Krankheit zuwendet, die am Ende überwunden ist - im Zentrum stehen die Schilderungen des Lebens vorher und dessen hoch stehende Bewertung im Zeichen der allgegenwärtigen Ironie. Dazu gehört auch die entsprechende Lesart der astrologischen Konstellation: Goldsworthy ist am gleichen Tag geboren wie Lady Diana und die in der Explosion der Columbia umgekommene indische Astronautin Kalpana Chawla. Von den drei Parzen Clotho, Lachesis und Atropos sei nun nur noch Letztere, d.i. Vesna, übrig, um Zeugnis abzulegen. Auch sie zähle aber ihre Tage in Haarbüscheln . . . Ebenso wenig ist der "Tumortschitsch" ein Verweis auf das farbige balkanische Personal in Lehárs Lustiger Witwe, sondern das wuchernde Karzinom in der Brust. Der Effekt des dudenkonformen Diminutivs transportiert aber, im Gegensatz zum englischen Original, eine fast gemütliche Note: das Tumörchen als Kumpel. Und dies ist durchaus im Sinne der Autorin, der daran liegt, jegliches Aufkommen von Pathos im Keim zu ersticken. In betontem Gegensatz zum häufigen Galgenhumor wird eine Person erinnert, die in jungen Jahren ideologische Moden, Outfits oder Standpunkte oder auch Sprachen beliebig gewechselt hat. "Ich war mir nie ganz sicher, wohin ich gehören sollte, also spezialisierte ich mich darauf, nirgendwo hinzugehören." Beobachtungen wie diese verraten den unbestechlichen Blick einer Person, die ihr Leben auch in der Erinnerung nicht verklärt. Vielmehr verweist sie mit nonchalanter Ironie darauf, wie bestimmend gerade in den jugoslawischen Jugendjahren die Pose war.

Das hatte nicht zuletzt auch mit dem propagandistisch verzerrten Selbstbild eines Landes zu tun, das Goldsworthy fast allegorisch zuspitzt, etwa in jener Episode, wo sie als herausragende Studentin dazu auserkoren wird, anlässlich einer Tito-Gedenkfeier Gedichte zu rezitieren. Playback, klar. Damit nichts schief geht. Und dennoch: Der real existierende Titoismus wird ebenso wie die schillernden Gestalten im unmittelbaren familiären Umfeld als eine Zeit der Unbeschwertheit geschildert. Wunderbar die Gestalt der Großmutter, die ihren Enkelinnen vorzugsweise Geschichten über die von den Osmanen an den montenegrinischen Vorfahren veranstaltete Gemetzel erzählte. (Pädagogisch beschlagene und aufgeklärte Menschen im Westen, also im eigentlichen Europa, wittern Gefahr.)

Goldsworthy unterrichtet mittlerweile englische Literatur an einer Londoner Universität. Sie hat in einem Buch vor Jahren eine glänzende Analyse der anglosächsischen Balkan-Stereotypen verfasst. In der assoziativen Erzählchronologie werden die Resultate der wissenschaftlichen Arbeit belletristisch aufbereitet. Natürlich ist es Absicht, wenn die Autorin gesteht, dass sie zur Enttäuschung mancher im Westen "nie in einem Gefängnis gefoltert" worden sei. Die zu Beginn dominanten Fragmente der privaten Biografie vor dem Hintergrund der großen Geschichte in Jugoslawien werden durch essayistische Abhandlungen über die Klischees abgelöst, die "Balkan" und "Westen" zur gegenseitigen Beschreibung einsetzen. Die Bilder, die in den verschiedenen Nationen vom jeweils "anderen" geprägt werden (Goldsworthy nennt sie in in ihrer wissenschaftlichen Arbeit sinnigerweise "trademarks"), überprüft die Autorin auch ihr eigenes Verständnis von Identität. Am deutlichsten tritt das durch die Emigration geschärfte Sensorium für die Differenz nach dem Beginn der Nato-Intervention 1999 zutage: Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Goldsworthy schon jahrelang für die serbische Redaktion der BBC. In ihren Nachtschichten verfolgt sie im Studio auf stummen Bildschirmen die Detonationen in der Heimatstadt. Unvermittelt gesteht sie sich ein, dass, trotz Vielsprachigkeit und kultureller Anpassungsfähigkeit, das "serbische Selbstverständnis prekärer" ist als angenommen. Die Autorin macht mit ihrer Verurteilung serbischer Kriegsgräuel deutlich, dass sie damit zuletzt an ein mit tumber Folklore aufgeladenes, nationalistisches Identifikationsgefäß denkt. Ebenso überzeugt beteuert sie darum, dass sie auch keine britischen Soldaten sterben sehen will, denn sie sei "ja auch Britin".

Das Wissen darum, an vielen Kulturen teilzunehmen und doch keiner ganz anzugehören, findet seinen überwältigenden Ausdruck in Goldsworthys liebevoller Feststellung der Seelenverwandtschaft mit ihrem Schwiegervater. Dieser war als hoher Offizier Ihrer Majestät mit den britischen Legionen vom indischen Subkontinent abgezogen. Obschon er seit 50 Jahren wieder in England lebt, ist er laut Goldsworthy dort nie mehr angekommen. Sie verstünden sich deshalb so gut, "weil wir beide hierher gehören und auch woandershin, in Orte, Zeiten und Länder, die es nicht mehr gibt. Was uns verbindet, ist ein Heimweh, das keinen Sinn ergibt, ein Heimweh nach Nirgendwo." Die Autorin gesteht freimütig, sie habe ihrer Krankheit nicht den geringsten Sinn abgewinnen können und, im Bewusstsein des bevorstehenden Todes, auch keine der oft beschriebenen Gotteserfahrungen gemacht. Vielleicht ist dieses Wenige aber unermesslich viel: Identität und Gemeinsamkeit im Phantomschmerz. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.11.2005)