Saddam Hussein steht wieder vor seinen Richtern: Die Bedeutung dieses Moments nicht nur für den Irak, sondern für die ganze Region und darüber hinaus lässt sich gar nicht ermessen. Der Prozess ist zwar keineswegs eine Garantie dafür, dass es in Zukunft jeden erwischt, der es verdient. Aber die Zeiten sind vorbei, in denen Diktatoren, wenn sie das Ende ihrer Herrschaft überlebten, ziemlich sicher sein konnten, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil für sie irgendwelche Arrangements getroffen wurden.

Warum dieser Prozess der irakischen Regierung so wichtig ist, dass sie ihn mit einer - an der Wichtigkeit und dem Umfang des Verfahrens gemessen - eher bescheidenen Vorbereitungszeit beginnen ließ, liegt auf der Hand: Die Opfer Saddams oder ihre Angehörigen verlangen nach Gerechtigkeit, und das möglichst schnell. Die Verbrechen etwa, die jetzt verhandelt werden, sind 23 Jahre her.

Auf der einen Seite steht also das Verhältnis zwischen dem früheren Regime und seinen Opfern - auf der anderen jedoch die Rolle, die der Prozess gegen Saddam Hussein im irakischen politischen Kontext spielt. Genauso wie die Verfassungsgebung sollte das Saddam-Verfahren dazu dienen, den nationalen Konsens zu begründen und zu festigen: Bau der Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, nationale Versöhnung, alles parallel. Das ist jedoch ein typisches Projekt für eine Postkonfliktsituation, und diese Phase hat der Irak noch nicht erreicht. Der Saddam-Prozess, so wichtig er für die Opfer ist, ist deshalb in ständiger Gefahr, instrumentalisiert zu werden und dadurch das Land mehr zu spalten als zu einen. Der böse Wahlkampfausrutscher des - wegen Korruptionsvorwürfen gegen seine Regierung schwer unter Druck geratenen - Expremiers Iyad Allawi ist ein Beispiel dafür. Die Menschenrechtslage im Irak kann und muss kritisiert werden, aber nicht mit solchen Vergleichen. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.11.2005)