Wien - Der Premierminister der von den USA unterstützten haitianischen Übergangsregierung, Gérard Latortue, bedauert, dass insgesamt 35 Kandidaten zu den Präsidentenwahlen am 8. Jänner antreten. "Wenn es weniger Kandidaten gegeben hätte, wäre es vielleicht für eine Bevölkerung mit 60 Prozent Analphabeten leichter, sich für einen Kandidaten zu entscheiden", sagte Latortue am Dienstag im Gespräch mit der APA in Wien. Die meisten Kandidaten hätten nämlich das gleiche Programm. Er habe den Kandidaten deshalb vorgeschlagen, sich auf fünf bis sechs zu einigen, doch jeder habe selbst kandidieren wollen. Bisher habe sich auch noch kein Favorit herauskristallisiert.

Seine Amtsperiode sei zu kurz gewesen, um soziale Gerechtigkeit in seinem Land zu erreichen, sagte der Premier. Die größten Herausforderungen für den künftigen Präsidenten und die künftige Regierung seien die Bekämpfung von Armut, die Schaffung von Jobs sowie die Beseitigung von Ungerechtigkeit. Dann würde auch Sicherheit im Lande geschaffen werden. Der Termin für die Präsidentschaftswahl am 8. Jänner mit einem zweiten Wahlgang am 15. Februar sei nun fix, so Latortue. Bezüglich des dreimaligen Verschiebens des Wahltermins meinte er, die vorigen Termine seien nicht offiziell gewesen, diese seien nun offiziell deklariert. Für die Sicherheit während des Wahlvorgangs sei vorgesorgt.

Der 2004 entmachtete und zwangsexilierte Präsident Jean-Bertrand Aristide, der jetzt in Südafrika lebt, gehöre der Vergangenheit an, sagte Latortue. Es würden zwar einige behaupten, Aristide habe nach wie vor in Haiti seine Hände im Spiel; er, Latortue, persönlich habe jedoch keine diesbezüglichen Beweise. Aristides ehemalige Partei sei gespalten, und er glaube nicht, dass sie bei den Wahlen viele Stimme erhalten werde. "Aber lassen Sie uns die Wahlen abwarten." Derzeit beschäftige sich die haitianische Justiz mit Aristides Fall. Wann der Prozess beendet sei, könne derzeit nicht gesagt werden.

Der Vorsitzende der Karibischen Staatengemeinschaft (Caricom), der Premierminister von Jamaika, Percival Patterson, hatte die Form der Entmachtung von Aristide, der unter Mitwirkung der USA und Frankreichs außer Landes gebracht worden war, als einen "gefährlichen Präzedenzfall für alle demokratisch gewählten Staatschefs" kritisiert. Die "verfassungswidrige Entfernung eines Staatsoberhaupts aus dem Amt" unter Mitwirkung westlicher Partner sei "nicht zu entschuldigen".

Die UNO-Mission bestehend aus rund 10.000 Polizisten und UNO-Blauhelmen werde mindestens noch ein Jahr bleiben, danach werde die Sicherheitssituation wieder hergestellt sein, zeigte sich Latortue im APA-Gespräch optimistisch. Auf die Frage, wie Haiti das Problem der marodierenden Banden lösen wolle, erklärte der Premier, es gebe nur mehr zwei in der Hauptstadt Port-au-Prince, eine im Stadtteil Bel Air, eine andere in Cité Soleil. Gemeinsam mit der UNO würde ein Entwaffnungsprogramm DDR (Entwaffnung, Demobilisierung, Wiedereingliederung) durchgeführt werden. Aber schließlich gebe es "überall auf der Welt" in den großen Städten Banden, sagte er.

Als positiv bezüglich seiner zweijährigen Amtsperiode bezeichnete Latortue die Verhinderung einer sozialen Explosion und die integrative Rolle. "Ich habe genug zum Frieden beigetragen." Auch die Wirtschaft habe sich erholt, so sei die Inflation von 40 auf 10 Prozent gefallen, und die Währungsreserven aufgestockt worden. Er sei froh seinem Land gedient zu haben, aber auch darüber, nun zurückzutreten, um sich als Pensionist seiner Familie zu widmen. Haiti habe ein Wirtschaftspotenzial im Bereich der Agroindustrie, Baumaterial und Tourismus. "Mit unseren Stränden haben wir das größte Tourismuspotenzial der Karibik", schwärmte Latortue.

Die Vereinten Nationen hatten im Oktober die Menschenrechtssituation in Haiti als katastrophal kritisiert und sofortige Maßnahmen gegen die ständigen Übergriffe gefordert. Die Übergangsregierung setzt nach Darstellung ihrer Kritiker die Medien des Landes massiv unter Druck. Der Generalsekretär der haitianischen Journalistenvereinigung, Guy Delva, hatte von einer "sehr ernsten Bedrohung der Pressefreiheit" gesprochen. Der Direktor des Instituts für Recht und Demokratie in Haiti mit Sitz im US-Staat Oregon, Brian Concannon, erklärte, die eigenständige Entwicklungspolitik Aristides sei den Interessen Frankreichs und der USA zuwidergelaufen. Haiti befinde sich nunmehr faktisch unter paramilitärischer Kontrolle lokaler Warlords. (APA)