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Peter F. Drucker, Pionier der Managementtheorie und Berater zahlreicher Großkonzerne, Organisationen und Behörden in aller Welt, ist am 11. November im Alter von 95 Jahren gestorben.

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Der hier zu Lande vielleicht unbekannteste unter den ganz großen, weltberühmten und verlorenen Söhnen der Heimat, der bedeutendste Managementdenker des 20. Jahrhunderts ist gestorben. Doch im Gegensatz zu Freud, Wittgenstein oder von Hayek können Intellektuelle bekennen, ihn nicht zu kennen – den Schöpfer vieler zeitloser Prinzipien moderner Unternehmensführung, den Churchill ebenso bewunderte wie Bill Gates. Doch ein Bestseller-"Theoretiker", den 35 Millionen in allen Sprachen lesen, ist suspekt genug, ignoriert zu werden: meines Wissens keine Ehrentafeln und Ehrendoktorate (1), keine Stipendien, Gastprofessuren, Preise, Briefmarken, keine Platz- und Straßennamen, keine Stiftungen oder Akademien. Warum sollte seine Geburtsstadt den "Altösterreicher" mit dem starken Wiener Akzent ehren, wenn es schon die ganze Welt getan hat?

Zu Wien hatte der großbürgerliche jüdische Intellektuelle, dessen Vater dem Kaiser als hoher Staatsbeamter gedient hatte und 1899 die Vorläuferinstitution der Wirtschaftsuniversität und späteren Hochschule für Welthandel, nämlich die K.k. Exportakademie, zu gründen mitgeholfen hatte, ein eher freundlich entspanntes Verhältnis: kein Hass, kein Groll – auch keine Sehnsucht, keine Kränkung über ausgebliebene Einladungen zur Rückkehr. Vielleicht, weil er aus Deutschland, wo er studierte und arbeitete, vertrieben wurde und nicht aus seiner Heimat?

Er hat eine neue Disziplin geschaffen, die – mangels Präzision und leichter Widerlegbarkeit – wissenschaftlich kein hohes Ansehen hat, aber sehr wichtig ist, weil die wichtigsten Leute, deren Wichtigkeit sie selbst erst begründet hatte, sie wichtig nehmen – die Managementlehre. Sie ist – wie die Jurisprudenz – keine Wissenschaft. Keine "Theorie". Management ist Kunst, hohe Kunst, und braucht wie die Kunst der Staatslenkung und der medizinischen Heilung Wissenschaft (und zwar die jeweils neuesten Erkenntnisse) und Alltagswissen und Methoden für richtige Diagnose und Therapie. "On perceptiveness" in "Decision-Making" (2) sagte er, ein guter Diagnostiker sieht, was niemand anderer sieht. (Guter Analytiker zu sein, wie sein Vater, sei nicht genug; einfühlsam wie seine Mutter hatte er schon als Kind intuitiv verstanden, welche Gäste der Eltern Ehekrach hatten.) Lebenslang war er ein geradezu unglaublich hellsichtiger Denker, weil er nicht nur dachte, sondern auch sah, was keiner sah – oder jeder eben erst sah, als alle es sahen, was zuerst keiner glauben wollte. Doch nichts ist schwieriger als "seeing things as they really are", anstatt Komfortables für wahr zu halten.

Weitblick wird als trivial abgetan, wenn er nach Jahrzehnten zu Binsenwahrheiten kristallisiert ist: die zentrale Rolle der Manager und Wissensarbeiter, von Marketing und Innovation, des Übergangs von der Waren- zur Wissensökonomie, von Mission und Strategie im Business, des Managements durch Ziele statt durch autoritären Führungsstil, des Non-Profit-Sektors, der wachsenden Kapitalmacht der Pensionsfonds und institutionellen Investoren für eine nachkapitalistische Gesellschaft, der überragenden Bedeutung der Mitarbeitermotivation für Firmenerfolg, er hat das alles vorhergesehen, was uns heute selbstverständlich und banal scheint und was wir schon nicht mehr hören können an Management-Ramsch aus zweiter und dritter Hand.

Daher: "The one management thinker every educated person should read" (Economist), alle Zweitbücher leicht entbehrlich.

Er sah, dass echte Führungsqualität eine entscheidende – und sehr, sehr knappe – Gabe ist. Dass Macher, Manager (und nicht große Eigentümer) letztlich über Wohl und Wehe ganzer Gesellschaften entscheiden. Dass gute Manager sehr selten sind. Entsprechend scharf der Wettbewerb um die besten Köpfe. Entsprechend hoch das Kopfgeld für Macher. Doch die Folgen dieses elementaren Marktgesetzes und des Börsendrucks widerstrebten seinem Hausverstand und Anstand: allzu kurzfristige Gewinnorientierung und maßlose Einkünfte der Manager.

Erhard Friedberg, Professor an der Science Po und Direktor des Centre de Sociologie des Organisations in Paris, vertraute er im Verlauf eines siebenstündigen Interviews unter anderem an, dass mehr als das 15fache Einkommen des CEO eines Unternehmens gegenüber seinen am schlechtesten bezahlten Arbeitern einfach unhaltbar sei; ebenso, wenn Aktienhändler mehr verdienten als Investoren.

Für solche Ideen müsste der feine, alte, gelehrte großbürgerliche und ordo-liberale Herr heute von Dummyuppies wohl als "Sozialist" (der er in seiner frühesten Jugend tatsächlich kurzfristig war) oder "Kommunist" verdächtigt werden, bestenfalls als "Sozialromantiker" und "Utopist", wie auch sein Engagement für den Dritten Sektor der Non-Profits. Doch er war Realist genug zu sehen, was angelsächsische Neoliberale nicht sehen können, das nämlich das "ungustiöse Spektakel" exzessiver Gagen der Konzerne und Stars bei der nächsten schweren Wirtschaftskrise zu "einem Ausbruch an Bitterkeit und Verachtung" führen werden.

Angesichts der Hitlerei misstraute er dem liberalen Glauben an allheilende Marktkräfte ebenso wie "big government" (dass nur gut Krieg führen und Geld entwerten könne). Im "Zeitalter der Organisationen" könne nur gutes Management in Wirtschaft und Politik die Menschheit vor Barbarei bewahren. Gesellschaft könne "nie perfekt, bestenfalls erträglich" sein. Management sei "das definierende Organ aller modernen Institutionen", nicht nur von Unternehmen, sondern auch des öffentlichen Sektors und des Dritten Sektors der Non-Profits. Daher inspirierte er sowohl die neoliberale Privatisierungs- als auch die eher linke "reinventing government"- und die Non-Profit-Bewegung. Doch das heutige "intellektuelle Koma der europäischen Linken" hielt er für "Furcht erregend", Blair etwa in seiner "hochanständigen Inkompetenz" für "den größten Langweiler", nicht nur im Vergleich mit den "überragenden Köpfen" der frühen Sozialdemokratie vor 100 Jahren.

Er verstand, dass der "Effective Executive" anderen dient, nicht sich selbst bedient. Dass Wirksamkeit die Antwort auf die Frage "How can I best serve?" ist. Dass nicht genagelte Schuhe oder Herrenmenschen-Allüren, sondern die Fähigkeiten, unerkannte Bedürfnisse zu befriedigen, Leader ausmachen. Dass nur Management "aus einem Mob eine Organisation" und "aus menschlichen Anstrengungen wirtschaftliche Leistung" macht. Dass aber Unternehmen auch eine Art Lebensgemeinschaft sind, nicht nur Produktions- und Profitmaschinen. Dass Gewinn unverzichtbar, aber Ertragsorientierung nicht ausreichend ist: Customers over profits. Dass Profit wichtig für Shareholder, aber auch für Vollbeschäftigung ist. Dass nachhaltiger Gewinn nur möglich ist, wenn Mitarbeiterinnen als wertvolle Ressource behandelt werden. Dass das auch empowerment, Dezentralisierung von Entscheidungsmacht, Kontrolle der Arbeiter über Produktionsabläufe, und garantierte Löhne erfordert. Dass Firmen und Märkte eben Institutionen mit Menschen sind, keine bloßen Kostenkalküle. Dass Menschen Menschen und Arbeiter der größte Wert eines Unternehmens, keine "Kostenstellen auf zwei Beinen" sind. Dass sowohl Zielvereinbarungen als auch Autonomie der Arbeitnehmer/innen wichtig sind. Dass gute Führung die Stärken der Mitarbeiter wirksam und ihre Schwächen belanglos macht. Dass Non-Profits von For-Profits lernen können – und umgekehrt Firmen von Kirchen und wohltätigen Organisationen.

Als Institutionalist war er einem Spann oder Schumpeter wohl näher als einem von Hayek und der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Jemand, der Staatslehre, internationales Recht, politische Ökonomie, Philosophie und politische, nicht nur betriebswirtschaftliche Analyse der Firma verband. Weil er geschichtsbewusst und geschichtskundig war, hat er etwa die Globalisierung für die Zeit nach 1848 gesehen und nicht erst heute entdeckt; und deshalb trafen seine Zukunftsprognosen – im Gegensatz zu denen trendiger "Trend"- oder "Zukunftsforscher" – fast immer ein, oft Jahrzehnte später. So sah er die Inflation der 70er-Jahre ebenso lange vorher wie die japanische Konkurrenz, als noch niemand sie ernst nahm. Er sah den Niedergang der Gewerkschaften bereits auf dem Höhepunkt ihrer Macht in der Nachkriegszeit. Und dass die Computer das Geschäftsleben revolutionieren würden, wusste er lange vor IBM. Gerade deshalb sind selbst seine alten Bücher oft immer noch lehrreich.

Er konnte komplexe Zusammenhänge klar und einfach erklären, ohne zu simplifizieren. Er interessierte sich für große Menschheitsfragen, nicht für belanglose technische Spielereien. Er war kein abgehobener Modell- und Systemtheoretiker, auch kein "number cruncher", sondern ein scharfsichtiger Beobachter und tiefsinniger Analytiker. Er "erfand" gleichsam Management als Beruf. Managementliteratur wurde Mode und der altmodische, alteuropäische Herr eine Kultfigur.

Er war sehr gebildet. Manch kleiner Klon seiner Zunft rümpfte die Nase, weil er nichts von multivariaten Verfahren verstand, sondern von Jane Austen, japanischer Malerei und frühmittelalterlicher Stadtentwicklung. Er war persönlich bescheiden, liebenswürdig, ohne jedes Getue. Sein beträchtliches Vermögen ging an eine Stiftung für Non-Profits. Sein Ziel war, Menschen lernen und wachsen, Firmen prosperieren, Arbeit attraktiver werden zu sehen. Er scheiterte mitunter spektakulär: In der Woche seines Ablebens war der weltgrößte Automobilkonzern, dessen Analyse seinerzeit seinen Ruhm begründet hatte (und der seinem Rat nicht gefolgt war), am Rande des Ruins. Dagegen war er bei General Electric so erfolgreich wie General Motors erfolglos.

Er war weitsichtig, weise, unterhaltsam und humorvoll schon in jungen Jahren. Er war vielfältig in seinen Studien und Berufen, als Journalist, Bankwirtschafter, Hochschullehrer, Autor, Vortragender, Firmenberater. Immer aktiv: "One either meets or one works."

Während andere in den Ruhestand gingen, wechselte er die Universität, ging von New York nach Kalifornien und begann überdies eine 20-jährige zweite Karriere als Editorial-Kolumnist des Wallstreet Journal. Mit 88 Jahren feierte ihn das Forbes Magazine auf seinem Titelblatt als "Still the Youngest Mind". Er war unvergleichlich, eine "force without peer": Der Vater der Managementlehre schrieb nur 15 seiner 39 Bücher (in über 30 Sprachen) über Management, 16 über Wirtschaft und Politik, zwei Romane und eine wunderbare Art Autobiografie ("Adventures of a Bystander", dt. "Schlüsseljahre"). Der "Sozialökologe" Peter F. Drucker, gebürtig aus Wien, starb knapp vor seinem 96. Geburtstag in diesen Tagen. Jetzt können wir ihn und "Druckerism" wohl endgültig vergessen. Oder ist da jemand?


1) Absurd freilich, wie die geplante Ehrendoktorwürde der WU, die einzige Ehrung seit 1945, die er ursprünglich mit großer Freude aufgenommen hatte, ausgerechnet im Februar 2000 aus politischen Gründen nicht zustande kam: "I greatly appreciate your flattering intention... to bestow on me the honorary doctorate ... But, to my regret, I cannot accept this honor ... To do so at the present time would clearly be understood as a POLITICAL manifesto on my part – especially in view of the publicity which, as your Fax points out, I received in the Austrian press on the occasion of my recent 90th birthday. I appreciate your good intentions – and am deeply grateful. But I have to say NO", schrieb er an Rektor Hansen im Februar 2000. Jetzt kann die versäumte Ehrung nicht mehr nachgeholt werden.

2) DVD-ROM "Decision-Making" (www.banlieues-media.com) (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.11.2005)