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Die Konsumwelt in Chinas Großstädten nähert sich immer mehr westlichen Vorbildern an, die Bergleute in den tödlich unsicheren Kohleminen sehen die Schattenseiten des Wachstums: soziale Missstände und Umweltkatastrophen.

Foto: APA/Epa/Str
Süß schmeckt es mir. Richtig gut." – Zhang Zuoji, Gouverneur der an Russland grenzenden Provinz Heilongjiang, prostete den Fernsehzuschauern zu. Demonstrativ trank er den ersten Schluck Wasser, der nach fünf Tagen wieder aus der Leitung floss. Aus dem Hintergrund riefen Beamte eilfertig: "Ganbei!" (auf Ex kippen!), so als ob das mit Tonnen von Aktivkohle gefilterte und verchlorte Leitungswasser ein edler Tropfen wäre.

Nach seinem Auftritt als Vorkoster verteidigte sich der Provinzgouverneur öffentlich dafür, dass er der Bevölkerung nicht von Anfang an reinen Wein eingeschenkt und behauptet hatte, die Wasserleitungen würden wegen einer Kontrolle gesperrt. Er habe Panik in der Bevölkerung befürchtet.

Und er wollte nicht die delikaten Beziehungen zum Nachbarn Russland belasten, auf den die Giftlast als nächste Station zutrieb. "Deshalb habe ich zu dieser gut gemeinten Lüge gegriffen." Solche Worte lösten in Chinas Internet weit verbreitete Entrüstung gegen ihn aus: "Lüge bleibt Lüge, egal wie sie gemeint ist."

Unglücksprovinz

Gouverneur Zhang hatte aber nur Stunden nach seinen provozierenden Erklärungen schon wieder andere Sorgen. Hals über Kopf musste er zu einem neuen Brandherd seiner Unglücksprovinz, in die 600 Kilometer entfernte Stadt Qitaihe, eilen. Dort war in der Nacht zum Montag eine veraltete Kohlenmine explodiert. Es gab 164 Tote.

Wie die Wirtschaftszeitung China Business News enthüllte, stellte sich heraus, dass die Kohleprovinz Heilongjiang nicht einmal ein eigenes Aufsichtsamt für den Kohlenbergbau hatte. Die Sicherheitsbedingungen der Zeche spotteten jeder Beschreibung.

Spitze des Eisbergs

Der Welt hätte nicht eindrucksvoller vorgeführt werden können, was die Umweltorganisation WWF, aber heute auch immer mehr chinesische Ökologen sagen: "Katastrophen wie der Chemieunfall sind nur die Spitze des Eisbergs chinesischer Umweltsünden." Selbst ein Kommentator in der für Auslandspropaganda zuständigen China Daily kritisierte nach dieser Unfallserie die "Wachstumsmanie" seines Landes, für die dessen Verantwortliche alles andere ignorierten.

Trotz einiger der besten Umweltgesetze der Welt und schöner Versprechungen in diesem Bereich ist das Gegenteil traurige Realität. China ist Spitze, wenn es um belastetes Grundwasser, verseuchte Böden oder sauren Regen geht, stellte sogar der jüngste staatliche Umweltbericht fest. Wirtschaftsboom, Bevölkerungswachstum und irrationale Entwicklungsplanung seien die Ursachen dieser tristen Lage.

Wachsende Konsequenzenbereitschaft

Die Umweltdebatte scheint Teilen der Pekinger Führung willkommen zu sein, die Bereitschaft zu Konsequenzen wächst. Premier Wen Jiabao legte in einer Krisensitzung ein sieben Punkte umfassendes Aktionsprogramm vor, um bis 2010 die Zerstörung zu stoppen. "Wir müssen klar sehen, dass die Menge an Verschmutzung, die wir derzeit erzeugen, mehr ist, als unsere Umwelt vertragen kann."

Der 45-jährige Umwelt- Vizeminister Pan Yue sieht das Chemieunglück als Beweis dafür, dass die "Umweltprobleme in China heute bereits unser tägliches Leben bedrohen". Der prominente Wachstumskritiker forderte im vergangenen Herbst die Pekinger Führung zu radikalen Konsequenzen auf, wenn sie nicht scheitern will.

In seinem Manifest "Ökologie und soziale Gerechtigkeit" schrieb er, es bleibe kein anderer Weg, als Wachstums- und Wirtschaftsziele ökologisch und sozial gerecht zu korrigieren und politische Reformen einzuleiten. Es sei ein Irrglaube, "dass ständiges Wachstum allein ausreicht, um für politische Stabilität zu sorgen".

Höhenflug entfesselter Marktwirtschaft

China bezahle die Rechnung für den Höhenflug seiner entfesselten Marktwirtschaft mit einer beispiellosen Umweltkatastrophe, Einkommensunterschieden und sozialen Ungerechtigkeiten. Sie seien genügend weit gediehen, um das Land auseinander sprengen zu können.

Pan Yue gehört zu einer kleinen Gruppe von Vordenkern, die in der Ökologie eine für China schicksalsbestimmende Kraft sieht: Pekings Führung könne, sagen sie, "eine Wirtschaftskrise mit gesamtwirtschaftlicher Kontrolle lösen. Sie kann – wenn auch unter hohen politischen Kosten – mit einer in der Gesellschaft ausbrechenden sozialen Krise fertig werden." Die Ökologie aber sprenge diese Dimensionen: "Wenn bei uns eine Umweltkrise ausbricht, werden wir dafür mit einer kaum abwendbaren nationalen Katastrophe bezahlen."

Ähnlich denkt He Bochuan, ein emeritierter Philosophieprofessor an der Kantoner Sun-Yatsen-Universität. Nach jahrelangen Feldforschungen schrieb er 1988 seinen Warnruf: "China auf dem Serpentinenweg", das erste radikalkritische Buch zur Umwelt. Es kam nach der Tiananmen-Krise 1989 auf den Index.

Umwelt abgestürzt

Für He, Mitglied der Prognosegruppe "Zukunft" in der Staatlichen Wissenschaftskommission, ist Chinas Umwelt bereits abgestürzt. Krisen seien in China nicht voraussagbar. "Aber wenn es zu einer großen Krise kommen sollte, dann sicher im Bereich der Umwelt." Wenn sich dort Kettenreaktionen verschärften, könne das zu einer Krise für die ganze Menschheit werden.

He vergleicht China mit einem großen Lederball, in den ständig neue Luft gepumpt wird. Und überall dort, wo diese zischend durch Ritzen entweicht, wird der Ball geflickt und geklebt.

Pekings Regierung lässt aber trotz der Mahner in ihren eigenen Reihen noch größere Chemiekombinate, pharmazeutische Konzerne und Superstaudämme bauen. Großprojekte sind in der Raumfahrt, in Biotechnologie und Biogenetik geplant. Bis 2020 sollen zudem mehr als 30 neue Atomkraftwerke erbaut werden, zwei bis drei pro Jahr. Wie es aussieht, zieht die Karawane auch nach dem Chemie-GAU am Songhua-Strom in unverändertem Tempo weiter. (John Erling, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.12.2005)