" Theatergeschichte, die von den Grundwerten Rasse, Volk, Reich ausgeht": Heinz Kindermann, der Gründer des Wiener Instituts für Theater- wissenschaft, fotografiert von Schulda Müller 1944.

Foto: ÖNB/Wien

Auch die eigene Vergangenheit ist Thema: die Institutsgründung 1943 durch Heinz Kindermann.

Wien – Theater als Form höchst lustvollen Erkenntnisgewinns haben die experimentierfreudigen Griechen bereits vor über zweitausend Jahren entdeckt. Als Wissenschaft mit universitären Weihen hingegen ist die Disziplin eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.

Die Theaterwissenschaft wurde ersonnen, als die kinematografischen Laufbilder der Kunst Konkurrenz zu machen begannen. Als ihr "Vater" gilt der Gelehrte Max Herrmann. 1923 gründete er in Berlin das erste Institut. Als Vertreter eines, so die Wiener Theaterwissenschafterin Birgit Peter, höchst innovativen Ansatzes verstand er Theater als "Raumkunst" und die junge Wissenschaft als fächerübergreifend, unter Hinzuziehung von Soziologie, Archäologie oder Architektur.

Herrmann leitete das Berliner Institut bis 1933. Dann wurde der jüdische Gelehrte in den "Ruhestand" zwangsversetzt. Ein Schicksal, das fünf Jahre später, 1938, auch in Wien 284 Hochschullehrer teilten. Rund 40 Prozent der Lehrenden mussten in den Monaten der "administrativen Umgestaltung" der Nationalsozialisten die Universität verlassen.

Nicht in der Theaterwissenschaft: Ein solches Institut existierte in Wien zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht. Seine Gründung fällt paradoxerweise in das Jahr 1943: in jene Zeit, als die Universitäten wegen des Krieges auf Sparflamme arbeiteten, an Neugründungen eigentlich nicht zu denken war.

Der Hintergrund: Reichsstatthalter Baldur von Schirach träumte, wie Edith Sauer in ihrem Beitrag zu dem Buch Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945 schrieb, davon, Wien "zum kulturellen Zentrum des Reiches" zu machen.

Ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen sollte. Bis auf die Gründung des Instituts für Theaterwissenschaft unter dem Literaturwissenschafter Heinz Kindermann 1943. Zwölf Räume stellte von Schirach dem Institut zur Verfügung, an repräsentativem Ort: in der Hofburg. Noch heute befindet es sich dort.

Welchen Ansatz Kindermann für die theaterwissenschaftliche Forschung plante, hatte er bereits im Vorwort zur ersten Auflage seines 1939 publizierten Buchs Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters beschrieben. Schon dieses wertete der Wissenschafter, der, damals in Münster lehrend, bereits am 1. Mai 1933 der nationalsozialistischen Partei beigetreten war, "als Versuch einer weltanschaulich und politisch gegründeten Theatergeschichte, die von den Grundwerten Rasse, Volk, Reich ausgeht". Bis heute lastet der Schatten seines Gründers schwer auf dem mittlerweile höchst engagiert die szenische Gegenwart und die eigene Vergangenheit beforschenden Institut, das sich zur Jahrtausendwende auch für Film und Fernsehen öffnete und heute Institut für Theater-, Film-und Medienwissenschaft heißt.

Kulturpolitik nach 45 Kindermanns Schatten lastet nicht zuletzt aufgrund der Kulturpolitik der Nachkriegsjahre. Zwar wurde Heinz Kindermann 1945 als Leiter abgesetzt, 1955 jedoch kehrte er zurück – und übernahm die Leitung erneut bis 1966, gefolgt von Margaret Dietrich, seiner einstigen Assistentin, die mit ihm 1943 aus Münster nach Wien gewechselt war. Bis zu Dietrichs Emeritierung im Jahr 1984 besuchte Kindermann nahezu täglich "sein" Institut.

Zwar hatte das Institut unter Dietrich durchaus eine inhaltliche Neuausrichtung erfahren und eine jüngere Generation von Professoren, wie Hilde Haider-Pregler, sowie kritische Studenten seit den Sechzigerjahren die prekäre Vergangenheit des Instituts thematisiert. 1981 hatte eine antifaschistische Arbeitsgruppe (Monika Meier, Gerhard Scheidt, Peter Rössler) die Schrift Theaterwissenschaft und Faschismus veröffentlicht. Erst nach 1984 aber, unter den folgenden Institutsleitern (Wolfgang Greisenegger, Hilde Haider-Pregler, Johann Hüttner, Monika Meister) setzte eine komplette Neuorientierung der Wissenschaft und die mit ihr verbundene intensive öffentliche Aufarbeitung ein.

Heute knüpft das mit rund 3000 Studierenden derzeit größte theaterwissenschaftliche Institut des deutschen Sprachraums an den frühen, fächerübergreifenden Ansatz Max Herrmanns an. Erweitert auf die neuen szenischen Medien, begreift es die komplexe Ästhetik des theatralen Ereignisses als zu beforschenden "Text" und lädt prominente Künstler wie Peter Konwitschny oder Hermann Nitsch als Gastprofessoren.

Ein Beitrag der Auseinandersetzung mit der – eigenen – Vergangenheit aus Anlass des Jubiläumsjahres 2005 ist auch das heutige Symposium im Wien Museum. Thema "Zukunft ohne Vergangenheit? Kultur/Politik in Wien 1945-55." Der Eröffnungsvortrag von Birgit Peter: "Der Fall Kindermann. Zur Gründung einer Wiener Institution." (DER STANDARD, Printausgabe, 07./08.12.2005)