Gier und Geist

"Ich sah keinen Grund, die Forderungen der Sinne den Lockungen des Geistes unterzuordnen, und war fest entschlossen, aus den menschlichen Beziehungen, aus Essen, Trinken und Hurerei, aus Luxus, Sport, Kunst, Reisen und allen anderen Dingen so viel Befriedigung herauszuholen wie nur irgend möglich." Schrieb W. Somerset Maugham. Ein Lebenshunger, der ihn, wie seine Figuren, durch die Kontinente trieb. Makellos gekleidet, hochmütig in Haltung und Geist, geschliffen der Stil. "Gute Prosa setzt gute Manieren voraus." Zum Auftakt einer Werkausgabe (49,90, Diogenes) bringt Diogenes Maughams gesammelte Erzählungen in zwei Bänden heraus: Ost und West und Der Rest der Welt. (cia)

Bild: Verlag Diogenes

Im Dunklen

Nahezu unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit erschien in der feinen edition splitter der Batya Horn im vergangenen Jahr ein literarisches Kleinod: Erinnerungen an eine übersehene Kleinseite des Lebens: Die enge Welt der kleinen Leute. Vor und nach Sonnenuntergang in autobiographischen Skizzen von Hans Rotter ( 20,–). "Man sieht nur, die im Licht stehn. Die im Dunkeln sieht man nicht", wusste schon Bert Brecht. Ähnlich auch der 1919 in Wien geborene Psychiater Hans Rotter. In seinen Skizzen taucht ein versunkener Alltag auf im Spannungsfeld von Zivilisation und Barbarei des 20. Jahrhunderts, samt seiner längst vergessenen Einzelheiten, Tätigkeiten und Eigenarten. (cia)

Bild: edition splitter

Schnaps

Der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy gelang heuer mit ihrem von Ingo Herzke kongenial ins Deutsche übersetzten Roman Paradies ( 23,20, Wagenbach) eine intensive wie auch erzählerisch radikale Studie zum Thema Sucht. Am Beispiel der Trinkerin Hannah Luckraft, die der Droge ohne Not verfallen ist, und ihrem gestörten Verhältnis zur Welt wie auch anhand der Beziehung mit ihrem Saufkumpan und Liebhaber Robert entwirft Kennedy ein präzises Bild von eingeschränkter Weltwahrnehmung, von euphorischen, also unterstellt paradiesischen Zuständen, die immer auch Filmriss und posttoxische Hölle nach sich ziehen. Ein schwerer Brocken, meisterhaft erzählt. (schach)

Saumagen

Der oberösterreichische Autor Manfred Rebhandl legt mit Lebensabende und Blutbäder ( 15,–, Czernin) das Krimidebüt des Jahres vor. Wobei sich das Kriminelle dieses im Ausseer Land spielenden Romans mehr auf die Zufuhr von Cholesterin und Alkohol seitens des Gendarmen Biermösl bezieht als auf die lustlose Aufklärung von Verbrechen. Mit der Figur des Biermösl ist Rebhandl der originellste Protagonist gelungen, der der heimischen Krimilandschaft seit dem Brenner von Wolf Haas zugemutet wird. Ein Verlierer, wie er im Buche steht. Eine harte, todtraurige und auf jeden Fall auch hochkomische Lektüre! Danach will man wochenlang keinen Schweinsbraten mehr sehen. Bitte nicht! (schach)

Buchcover: Czernin Verlag

Schnaps II

Es gibt immer einen guten Grund, Moskau – Petuški von Venedikt Erofeev ( 19,40, Kein & Aber), diese autobiografisch eingefärbte Beschreibung einer anfangs feuchtfröhlichen und dann apokalyptischen Kampftrinkerreise in einem Moskauer Vorortezug vom Kursker Bahnhof zur Geliebten nach Petuški zu empfehlen. Heuer ist es die von Peter Urban unternommene, hervorragende Neuübersetzung dieses russischen Klassikers. Mit zunehmendem Alkoholisierungsgrad wüstere, absurdere und ausuferndere philosophische Monologe und Dialoge im Abteil, bei denen man Tränen lacht und weint, sie dürfen tatsächlich in keinem Haushalt fehlen. Komik, Chaos, Depression. Ein Meisterwerk! (schach)

Buchcover: Verlag Kein & Aber

Alles wird gut

Der britische Autor Ian McEwan muss von seiner Wandlungsfähigkeit und stilistischen Bravour her gerade auch dank seines aktuellen Romans Saturday (20,50, Diogenes) als einer der wesentlichsten Gegenwartsautoren betrachtet werden. Herauf von Der Zementgarten aus 1978 bis zu Abbitte aus 2002 gelingt es McEwan nicht nur immer wieder punktgenau, Zeitgefühle künstlerisch einzufangen. Mit dem Protagonisten aus Saturday, dem Londoner Neurochirurgen Henry Perowne betritt auch ein Romanheld die Bühne der Weltliteratur, der sich so gar nicht dafür zu eignen scheint. Ein rundum zufriedener und glücklicher Familienmensch, dem aller Tiefgang fehlt? Doch, das geht sehr gut! (schach)

Buchcover: Verlag Diogenes

Vernunft, vital

Dass selbst hinter Jahrhundertunternehmungen, die man gemeinhin epochal nennt, Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten stecken: Dies ist eine Erkenntnis, die wahrhaft aufgeklärte Geister mit gelassener Heiterkeit quittieren. Der Romancier und Essayist Philipp Blom, der mit Das vernünftige Ungeheuer ( 30,90, Eichborn – Andere Bibliothek) die Entstehung der französischen Encyclopédie des 18. Jahrhunderts nacherzählt, entwirft also in Augenhöhe Porträts hart arbeitender und oft sehr neurotischer Intellektueller und Lebenskünstler: Denis Diderot, Rousseau, Louis de Jaucourt – Vielschreiber und Wenigverdiener, eingebettet in ein vitales Panorama, das unendlich viel Lust macht, sich mehr mit dieser Epoche zu beschäftigen. (cp)

Buchcover: Eichborn – Andere Bibliothek

Liebe, Hölle, Paradies

In Zeiten, in denen junge Autoren gern ein bisschen poppig, sympathisch und gut vermarktbar daherkommen, nähert sich uns sprachsicher, nicht immer durchschaubar und stets ein wenig auf Distanz zu sich selbst ein ganz Großer: Navid Kermani, persisch-deutscher Muslim, dem wir für das Buch der von Neil Young Getöteten ewig dankbar sein werden, legt mit Du sollst ( 18,40, Ammann) sein bisher exponiertestes Werk vor: Erzählungen über Kampf und Leidenschaft zwischen den Geschlechtern, Eros und Theologie, weit entfernt vom zynischen Gewitzel Marke Houellebecq. Direkte Blicke, messerscharfe Beobachtungen, entblößend, aber nie pornographisch – Kermani wird uns noch lange begleiten. (cp)

Buchcover: Verlag Ammann

Simenon forever!

Pragmatisch beschleunigt geschrieben, gleichzeitig unendlich präzise; Weltliteratur als verkappte Bahnhofslektüre – aber was wäre gegen Bahnhöfe und deren Wartehallen als Abbilder der condition humaine einzuwenden? Zwei Bücher von Georges Simenon pro Monat lesen, egal ob es nun die Maigret-Krimis oder die Psychostudien und -thriller (etwa Schlusslichter) sind – ein unverwechselbar kühler Wahrnehmungsfluss wird da wirksam, durch eine Welt von Gehemmten und zugleich Fordernden, mit großen Herzen. Bei Diogenes erscheinen seit geraumer Zeit Neuausgaben (meist zwischen 170 und 210 Seiten dick und selten teurer als 9,90): Da kann man anfangen zu lesen, wo man will. Loslassen wird es einen so schnell nicht mehr. (cp)

Buchcover: Diogenes

Rechtzeitig

Lebenskunst ist ein Wort, das bei Adolf Muschg oft vorkommt, nicht zuletzt in seiner Frankfurter Poetikvorlesung "Literatur als Therapie?". Antworten finden sich bei Muschg keine, es geht ihm darum, die richtigen Fragen zu stellen. Das ist im Roman Eikan, du bist spät ( 18,40, Suhrkamp) nicht anders. Der Titel spielt auf eine japanische Legende an, in der ein buddhistischer Abt lernt, dass, wer spät (allerdings nicht zu spät) kommt, die Erleuchtung finden kann. Es ist daher kein Zufall, dass die Hauptfigur in diesem Buch Leuchter heißt. Er, ein aus dem Leben Geworfener, erfährt in Japan sein Scheitern als Möglichkeit einer Umkehr. Ein dichter Roman um das Verhältnis von Mann und Frau, Kunst und Leben, Reden und Schweigen. (steg)

Verunsicherung

"Wer auf dem Kopf geht, hat den Himmel als Abgrund unter sich", zitierte Klaus Merz einmal Paul Celan. Und es sind der andere Blick, das Verborgene und die Abgründe in der scheinbaren Normalität des Lebens, die Merz interessiert haben, von Anfang an. Im Band Priskas Miniaturen ( 17,90, Haymon) sind nun endlich Merz' frühe Erzählungen aus den 70er- und 80er-Jahren wieder greifbar. Ob es um einen Pfarrer geht, der ins Zweifeln gekommen ist, oder den Lokführer einer Schmalspurbahn, den an manchen Tagen das nackte Grauen packt, sodass er "Nachtdienst bei Tag leistet", immer handeln diese kleinen Geschichten von existenzieller Verunsicherung, dem Kampf ums Leben und davon, dass in der Ruhe die Stärke liegt. (steg)

Buchcover: Haymon Verlag

Glanz

Flaubert schrieb einmal an Louise Colet: "Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts ...". Es sind solche Bücher über nichts, die gerade deshalb von allem handeln, die der 78-jährige Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier schreibt. Um das Hauchhafte, Hinfällige, Vergängliche und das Geltenlassen der Dinge geht es auch in dem schmalen Bändchen Ob die Granatbäume blühen ( 13,20, Suhrkamp), das er nach 14- jährigem Schweigen nun publizierte. Eigentlich ist es eine Liebeserklärung an seine Frau, mit der er 60 Jahre zusammen gewesen war und die 1997 starb. Ein feines Buch mit dunklem Glanz, das den Leser staunen macht, dass so viel Sehnsucht und Schmerz so viel Schönheit zeitigt. (steg)(DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 10./11.12.2005)

Buchcover: Suhrkamp