Die jüngste Zinserhöhung der EZB um 0,25 Prozentpunkte mag wegen ihres Ausmaßes wenig Gewicht haben, das dahinterstehende Konzept von Wirtschaftspolitik stellt hingegen eine Dauerbelastung der europäischen Wirtschaft dar.

Während sich die Politik der US-Notenbank sowohl an Preisstabilität als auch an einem hohen Wachstum von Produktion und Beschäftigung orientiert, wurde der EZB der Primat des Geldwerts vorgeschrieben. Allerdings kann die EZB selbst bestimmen, was unter Geldwertstabilität zu verstehen ist und wie flexibel dieses Ziel verfolgt werden soll. Sie hat sich auf ein in dreifacher Hinsicht rigides Konzept festgelegt:

Erstens wird für Geldwertstabilität eine fixe Zielgröße vorgegeben (2 Prozent).

Zweitens unterscheidet die EZB nicht zwischen der "hausgemachten" (Kern-)Inflation und (externen) Sondereinflüssen. Wenn sich etwa die (gesamte) Inflationsrate wegen fortgesetzter Ölpreissteigerungen beschleunigt, so "bestraft" die EZB dafür die Schuldner in Europa (Unternehmer, Staat, verschuldete Haushalte) mit einer Zinserhöhung.

Drittens, die EZB berücksichtigt nicht, dass die statistische Inflationsrate den tatsächlichen Preisauftrieb um etwa einen Prozentpunkt überzeichnet, weil die Verbesserung der Produktqualitäten nicht hinreichend erfasst wird.

Schwächung der Gesamtnachfrage

Die US-Notenbank gesteht sich viel mehr Flexibilität zu; sie verzichtet auf eine Quantifizierung von Preisstabilität, orientiert sich an der "core inflation" und berücksichtigt die Probleme der Inflationsmessung. Dadurch kann sie es sich und der US-Wirtschaft ersparen, in einer Phase wirtschaftlicher Schwäche und hoher Arbeitslosigkeit die Zinsen zu erhöhen. Die EZB erspart uns das als Folge starrer Selbstbindungen nicht.

Zinserhöhungen sind grundsätzlich ein schlechtes Mittel zur Inflationsbekämpfung, weil sie nicht spezifisch den Preisauftrieb schwächen, sondern wirtschaftliche Aktivitäten in ihrer Gesamtheit. Deshalb sind Zinserhöhungen in einer Stagnationsphase besonders verfehlt. Eine konkrete Analyse, wer davon am meisten benachteiligt wird, bestätigt diese These. Ich nehme die deutsche Wirtschaft als Beispiel;

Ende 2004 waren deutsche Unternehmen mit 1.606 Mrd. Euro verschuldet, ihr Zinsendienst lag bei 50,8 Mrd. Euro. Diese Kosten steigen selbst bei einer Zinserhöhung um nur 0,25 Prozentpunkte um 4,0 Mrd. Euro (0,25 Prozent von 1.606 Mrd. Euro) und damit um 7,9 Prozent (bezogen auf die Zinsenlast).

Eine solche zusätzliche Kostenbelastung ist in einer Stagnation nicht unerheblich (welche Aufregung gäbe es, wenn etwa die Löhne im gleichen Ausmaß stiegen). Für die deutschen Haushalte steigt der Zinsendienst als Folge der Leitzinserhöhung um 3,9 Mrd. Euro oder 6,7 Prozent.

Sowohl von den Unternehmen als auch von den Haushalten werden durch höhere Zinsen gerade jene getroffen, deren Investitions- bzw. Konsumnachfrage in Relation zu ihren Einkommen stark ist (deshalb sind sie ja verschuldet). Aus diesem Grund schwächt eine Zinserhöhung die Gesamtnachfrage und kann den Preisauftrieb nur insoweit dämpfen, als dieser durch eine übermäßig steigende Nachfrage bedingt ist. Dies war in Europa zuletzt vor etwa 35 Jahren der Fall.

Tatsächlich ist der leichte Anstieg der Inflation durch höhere Kosten, insbesondere durch den gestiegenen Ölpreis, bedingt. Eine Kosteninflation wird aber durch einen Zinsanstieg gestärkt, da der Zinsendienst einen Teil der Produktionskosten darstellt.

Verteilungseffekte

Statt die Anreize zur Produktionsausweitung zu verbessern (Inflationsdämpfung durch ein höheres Güterangebot), verstärken Zinssteigerungen die Anreize zur Finanzakkumulation.

Das spiegelt sich auch in den Verteilungseffekten wider: Zinssteigerungen belasten die Schuldner (insbesondere "unternehmerische Unternehmer") und begünstigen die Gläubiger (Rentiers), sie verteilen deshalb gleichzeitig die Einkommen von unten nach oben um.

Überdies beeinträchtigen (fortgesetzte) Zinssteigerungen die unternehmerische Aktivitäten auch dadurch, dass sie den Wechselkurs erhöhen und damit die Exporte dämpfen. Bei guter Konjunktur wie in den Vereinigten Staaten ist das wenig problematisch, für die Unternehmer in der exportabhängigen und stagnierenden Eurozone hingegen schon.

Die Bekämpfung der Inflation durch Erhöhung der Zinsen und damit der Produktionskosten ist also eine verfehlte Politik.

Warum wird sie dann nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen, warum sind insbesondere die Proteste der Unternehmerverbände in der Eurozone gegen die jüngste Zinserhöhung der EZB so verhalten geblieben?

Zwei Gründe scheinen dafür bestimmend: Erstens, die beiden wichtigsten Theorien makroökonomischer Politik, Keynesianismus und Monetarismus, leiten zwar für die meisten Probleme gegensätzlich Empfehlungen ab, in einem Punkt stimmen sie hingegen überein: Der Preisauftrieb kann/soll durch Zinssteigerungen bekämpft werden.

Überholte Erklärungsmodelle

Dies erklärt sich daraus, dass beide Schulen von folgender Unterscheidung ausgehen, die in der Realität längst obsolet geworden ist: Geld dient Transaktionszwecken, bringt aber keinen Zins (Ertrag), Finanzvermögen wie Anleihen bringen dagegen Ertrag, aber keine Liquidität. Steigt nun der Zins, so die gängige Annahme, dann ginge die nachgefragte Geldmenge und damit der Preisauftrieb zurück (im Hinblick auf das Geld war auch Keynes ein Monetarist). Je weiter verbreitet ein überholtes Verständnis ist, desto länger kann es sich halten.

Der zweite Grund ist polit-ökonomischer Natur. Nach Jahrzehnten von Prosperität und – wenn auch abgeschwächtem – Wirtschaftswachstum wurden enorme Mengen an Finanzvermögen akkumuliert, das sich auf nahezu alle Haushalte und Unternehmen verteilt (wenn auch sehr ungleich).

Interessenvertretung oder "Richterin"?

Gleichzeitig hat die Gesellschaft keine Institution herausgebildet, welche die spezifischen Interessen des Finanzkapitals vertritt – als da wären: ein stabiles Preisniveau auch dann, wenn sich Importe massiv verteuern, hohe Realzinsen, damit unser Geld schneller arbeitet, stabile Staatsfinanzen, damit wir Rentiers nicht um einen Teil unserer Finanzvermögen "umfallen", freie Finanzmärkte, damit sich das Geld auch durch Spekulation vermehren kann, ein hoher Wechselkurs, damit Finanzvermögen in unserer Währung mehr wert ist als in anderen Währungen, etc.

Diese Interessen widersprechen zwar in vieler Hinsicht jenen des Realkapitals (Unternehmer) und der Arbeit, sie sind aber bedeutend wie das Finanzkapital insgesamt und haben gleichzeitig keine institutionelle Vertretung (jene der Unternehmer oder der Arbeit aber schon).

Deshalb übernehmen die Notenbanken stillschweigend die Vertretung dieser Interessen (ganz im Sinne der Theorie "spontaner Ordnungen" von Hayek).

Gleichzeitig begreift sich aber gerade die EZB als eine Institution, die über partikulären Interessen steht, und leitet aus dieser Selbstsicht auch das Recht ab, als "Richterin" die Wirtschaftspolitik der Regierungen zu beurteilen. Würde sich die EZB als Vertreterin der Interessen des Finanzkapitals sehen, so löste dies eine kaum erträgliche "kognitive Dissonanz" aus.

Sie handelt daher in gutem Glauben, wenn sie ihre Politik als eine solche wahrnimmt, welche im allgemeinen Interesse liegt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11.12.2005)