In der Person von Ante Gotovina steht ganz Kroatien vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal: Das ist die vorherrschende Meinung nicht nur in nationalistischen Kreisen des Landes, sondern vermutlich auch einer Mehrheit der Bevölkerung. Eine Verurteilung des Generals würde bedeuten, dass das unabhängige Kroatien auf Verbrechen aufgebaut worden sei, sagt etwa Parlamentspräsident Vladimir Seks von der Regierungspartei HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft).

Dem nach Präsident Stipe Mesic zweiten Mann im Staat ist offenbar nicht bewusst, dass er damit genau jene Kollektivschuldthese vertritt, die er ansonsten strikt ablehnen würde. Es gibt nur individuelle Schuld, und je eindeutiger sie festgestellt und zugewiesen wird, desto besser für die demokratische und historische Hygiene einer Gesellschaft.

Tatsächlich befand sich Kroatien bis zur Festnahme Gotovinas und dessen Auslieferung an das UN-Tribunal in Geiselhaft. Zunächst wegen der Weigerung der EU, Beitrittsverhandlungen mit Zagreb aufzunehmen - die dann, auch auf Betreiben Österreichs, aufgehoben wurde. Vor allem aber deshalb, weil ohne Klärung der Rolle des "Kriegshelden" Gotovina bei der Rückeroberung der Krajina im Jahr 1995 eine offene Aufarbeitung der jüngeren Geschichte Kroatiens nicht gelingen kann.

Diese "Operation Sturm" ist sozusagen die Geburtsstunde des modernen Kroatien, weil die seit 1991 unabhängige ehemalige jugoslawische Teilrepublik damit - und mit der Rückeroberung Ostslawoniens - die volle Souveränität über das gesamte Staatsgebiet wiederherstellte. In der offiziellen kroatischen Geschichtsschreibung ist es der "vaterländische Krieg", und in dieser Einschätzung herrscht breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens.

Das kann und darf aber nicht bedeuten, dass erstens alles, was in diesem Krieg geschah, tabu ist; und dass zweitens die Vorgeschichte der Abspaltung der Krajina ausgeblendet bleibt. Unbestritten ist, dass es bei der Rückeroberung der Krajina zu Massenvertreibungen von Serben und zu Kriegsverbrechen gekommen ist. Die Rolle Gotovinas dabei wird vom Haager Tribunal zu klären sein.

Wie immer aber das Urteil ausfällt - es wird dem kroatischen Staat die Auseinandersetzung mit der Behandlung der serbischen Minderheit unter dem Regime des Staatsgründers Franjo Tudjman und auch noch nach dessen Tod nicht ersparen. Tudjman wollte nicht nur den weit überproportionalen Anteil der Serben in Verwaltung und Sicherheitsapparat (ein Erbe von Tito-Jugoslawien) zurückdrängen, sondern den Serben auch keinen besonderen Minderheitenstatus zubilligen.

Vor allem Letzteres war kurzsichtig. Mehr Großzügigkeit hätte nicht nur den Serben, sondern auch dem jungen kroatischen Staat viel Leid erspart. Bis heute trägt Kroatien menschlich wie materiell schwer an den Folgen und dem Bestreben, sie durch Wiederansiedelung von Vertriebenen und/oder Entschädigung zu lindern.

Der Prozess gegen Gotovina wird dazu beitragen, die dunkleren Kapitel in der Geschichte des modernen Kroatien zu erhellen. Aber es wird an Kroatien selbst liegen, für sich und seine Zukunft das Beste daraus zu machen. In der Person des Ministerpräsidenten und HDZ-Chefs Ivo Sanader wird deutlich, dass diese Aufgabe schwierig, aber nicht unlösbar ist. Sanader, einst selbst glühender Verteidiger des "Helden" Gotovina, bekennt sich heute uneingeschränkt zur Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal und zur europäischen Integration. Zugleich will er die "Wahrheit über den vaterländischen Krieg" verteidigen.

Diese Wahrheit ist freilich noch nicht zu Ende formuliert. Sich ihr offen zu stellen kann dem Selbstbewusstsein des Landes und seiner Stellung in Europa nur nützen - und hätte außerdem starke Beispielwirkung für Nachbarn wie Serbien, wo der Blick auf die jüngere Vergangenheit noch ungleich stärker von nationalen Mythen getrübt ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.12.2005)