Der Standard: Warum essen wir so gerne? Heiko Ernst: Nicht nur, um zu überleben. Essen ist in unserer Kultur überfrachtet mit verschiedensten Werten. Etwa mit Genuss, Freude, Glück oder Geselligkeit. Aber auch Klassenunterschiede oder Distinktionsgewinne machen sich am Essen fest.

Der Standard:Essen wir deswegen auch immer mehr?
Ernst: Nicht alle essen so viel. Da gibt es eine merkwürdige Ambivalenz. Manche essen zu wenig und andere zu viel. Aber insgesamt können wir uns nicht kontrollieren: Wir sind von Essangeboten umzingelt, von Genussverführungen, von appetitanregenden Dingen. Unsere Instinkte sind dagegen schlecht gewappnet, wir sind bei weitem nicht so willensstark, wie wir glauben. Das Völlern ist zu einem Paradigma für den Kontrollverlust in unserem Leben geworden. Der Standard:Die Völlerei wird uns aufgezwungen?
Ernst: Es wird einer unserer Instinkte systematisch ausgebeutet, indem man sich die Zone der biologischen Indifferenz, wie die Biologen sagen, zunutze macht. Wenn wir hungrig oder satt sind, bestimmt der Instinkt unser Verhalten, d.h. wir essen viel oder wir essen nichts. In der Zwischenzone schlagen die äußeren Reize zu, da werden wir von der Essensindustrie, die ein riesiges Geschäft geworden ist, von ihrer Werbung, von den Kaufhäusern und Supermärkten verführt. Wir sollen immer neue Dinge schmecken und probieren.

Der Standard:Wir sollen allerdings auch schlank und gesund bleiben.
Ernst: Richtig. Wir essen immer schon mit einem schlechten Gewissen. Wir wissen, dass Völlern unästhetisch und ungesund ist. Das erzeugt Schuldgefühle, die aber schon wieder eine Marktchance sind: Es gibt Light-Produkte, Diätbücher, -ratgeber, -kliniken. Es gibt neben Anorexie und Bulimie inzwischen das Krankheitsbild der Orthorexie, des krankhaften Versuchs, das Richtige zu essen.

Der Standard:Volkswirtschaftlich gesehen brauchen wir also die Völlerei, damit es auch der Schönheits- und Gesundheitsindustrie gut geht?
Ernst: Diese Industrien hängen sehr stark voneinander ab. Und profitieren voneinander. In ihrem eigenen Interesse werden sie darauf achten, sowohl unseren Hedonismus als auch unser schlechtes Gewissen weiter anzuheizen.

Der Standard:Wie hat sich das Bild der Völlerei verändert?
Ernst: Inzwischen ist es so, dass die Armen und Ungebildeten dick sind. Die Reichen und Gebildeten sind schlank. Früher war es umgekehrt. Sehen Sie sich die Porträts aus dem Mittelalter oder der Renaissance an. Da war Leibesfülle noch etwas Schönes, etwas Gutes. Ein Zeichen von Wohlstand.

Der Standard:War Völlerei nicht schon immer negativ belegt? In der katholischen Wertvorstellung gilt sie als Todsünde.
Ernst: Da muss man aufpassen. Völlerei wurde auch früher durchaus ambivalent behandelt. In den Klöstern waren die Mönche etwa die bestgenährten Menschen. Von den Kirchenvätern wurde Völlerei andererseits als Einfallstor der Sünde für alle anderen Sünden gesehen. Wer Völlerei betreibt, der schwächt seine Willenskraft und ist dann auch gegenüber anderen Sünden nicht mehr abwehrbereit.

Der Standard:Die heutige ambivalente Wertung der Völlerei ist also nicht neu?
Ernst: Nein, denken Sie an die Antike: Da war das Symposion, das Gastmahl, positiv besetzt. Selbst im Neuen Testament ist das Essen keineswegs verpönt, man nehme das letzte Abendmahl. Askese war lange kein christliches Ideal. Das wurde es erst mit den Kirchenvätern, genauer seit Gregor dem Großen. Er erstellte einen Katalog, wann Essen Sünde ist. Er sagte, wir essen zu viel, zu früh, zu raffiniert und zu teuer.

Der Standard:Was hat sich durch das Aufkommen des Junk-Food verändert?
Ernst: Wie in vielen anderen Lebensbereichen hat sich eine Art Fordismus durchgesetzt. Wir fallen auf eine Stufe zurück, auf der man wieder mit den Fingern isst, man kocht kaum noch selbst. In England haben 60 Prozent der Haushalte gar keine richtige Küche mehr. Es ist zu einer Primitivisierung des Essens gekommen.

Der Standard:Aber doch auch zu einer Verfeinerung. So viele Gourmets wie heute gab es noch nie.
Ernst: Das ist der gegenüberliegende Pol. Die Gourmets haben aus dem Essen ein Statussymbol gemacht. Doch auch hier ist eine Verkrampfung zu spüren. Für das kulinarische Schlaraffenland, in dem wir leben, sind wir psychisch nicht gebaut.

Der Standard:Sind wir in unserem Essverhalten paranoid?
Ernst: Wir haben in der Tat ein zwanghaftes Verhältnis zum Essen, unser Denken kreist ständig darum, wir sehen uns im Fernsehen Kochsendungen an, wir sprechen über das Preis-Leistungs-Verhältnis, wir gehen teuer essen. Und derjenige, der Maß halten will, der beschäftigt sich erst recht obsessiv damit.

Der Standard:Was können wir dagegen machen?
Ernst: Mir müssen darauf vertrauen, dass Essen wieder zu einem bewussten Akt wird, nicht ein Akt des Schlingens und der schieren Bedürfnisbefriedigung. In der Zusammenführung von Gesundheit und Genuss müssen wir ins Essen wieder eine vernünftige Note bringen.

Der Standard :In Hinblick auf Weihnachten wird diese Vision wohl noch ein wenig auf sich warten lassen. Ernst: Man kann nur empfehlen: Weniger ist mehr. Und darauf hoffen, dass sich viele Menschen im Spiegel selbst nicht mehr sehen können. (Der Standard, Printausgabe 17./18.12.2005)