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"Chile hat eine der größten Einkommensscheren Lateinamerikas. Diese Ungleichheit müssen wir bekämpfen und eine Umverteilung vornehmen. Dazu müssen wir Arbeitsplätze schaffen und vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen stärken, damit auch sie von den Freihandelsabkommen profitieren," sagt Michelle Bachelet im STANDARD-Interview

Foto: APA/EPA/IAN SALAS
Michelle Bachelet von der regierenden Concertacion kam im ersten Wahlgang auf 45,9 Prozent der Stimmen und tritt in der Stichwahl am 15. Jänner gegen den Multimillionär Sebastián Piñera von der rechten Nationalen Erneuerung (RN) an. Sie sieht ihren Erfolg auch als Zeichen dafür, dass in Chile die Frauen an Einfluss gewonnen haben, meint sie im STANDARD- Interview mit Sandra Weiß.

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Standard: Sie sind Frau und links. Warum sind Sie in einer so konservativen wie der chilenischen Gesellschaft dennoch wählbar?

Michelle Bachelet: Das reflektiert ein Stück weit die Veränderungen in der chilenischen Gesellschaft. Frauen sind einflussreicher geworden. Zudem bin ich direkt und habe vielleicht als eine Frau einen schnörkelloseren Zugang zur Politik als Männer. Außerdem hat es mit der hervorragenden Arbeit der aktuellen Regierung der Concertacion zu tun, die auf der Basis von Verständigung und Konsens Fortschritte erzielt hat. Sie hat eine sehr ethische Politik gemacht.

Standard: Politikerinnen sind in Lateinamerika auf dem Vormarsch. Was ist denn das Besondere, das sie mitbringen ?

Bachelet: Wir sind genauso fähig wie Männer und können ein Land genauso führen. Wir Frauen sind effizient und aufrichtig. Wir kämpfen mit voller Kraft für die Dinge, an die wir glauben. Und wir können vielleicht eher der Politik ein menschliches Antlitz geben.

Standard: Das Thema Menschenrechte und Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur spielt im Wahlkampf fast keine Rolle.

Bachelet: Die Wunden und Narben der Diktatur werden immer bleiben, und wir müssen lernen, mit ihnen zu leben. Ich will die Versöhnung weiter vorantreiben. Auf der einen Seite müssen wir mehr Wahrheit und mehr Gerechtigkeit schaffen. Aber es muss auch Entschädigungen für diejenigen geben, die gelitten haben. Versöhnung bedeutet auch, den Benachteiligten mehr Chancen zu geben und unsere unterschiedlichen Meinungen zu respektieren. Es gibt natürlich immer Menschen, denen das Erreichte nicht weit genug geht und welche, denen es schon viel zu weit geht. Wichtig ist, dass Pinochet heute keine Rolle mehr spielt, er ist kein politischer Akteur mehr. Gleichwohl gibt es noch immer Defizite in der Demokratie, und der Übergang von der Diktatur ist noch nicht vollständig vollzogen. So schleppen wir noch immer Erblasten wie zum Beispiel das binominale Wahlrecht mit uns herum, für dessen Abschaffung ich mich einsetzen werde.

Standard: Und im Parlament wird über die Reduzierung der Höchststrafe für Folterer und Mörder der Diktatur auf fünf Jahre diskutiert...

Bachelet: Es ist nicht der richtige Moment für diese Diskussion. Allerdings dürfen wir nicht nur zurückblicken, sondern müssen auch in die Zukunft schauen. Das verlangt die Jugend von uns. Wir müssen uns um Arbeitsplätze und die Gleichstellung der Frau kümmern.

Standard: Chile ist ein wirtschaftlich aufstrebendes Land und auf dem Weg in die Erste Welt. Wo liegen die größten Schwachstellen, was werden Ihre Prioritäten als Präsidentin sein ?

Bachelet: Chile hat eine der größten Einkommensscheren Lateinamerikas. Diese Ungleichheit müssen wir bekämpfen und eine Umverteilung vornehmen. Dazu müssen wir Arbeitsplätze schaffen und vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen stärken, damit auch sie von den Freihandelsabkommen profitieren. Wir haben in der Bildung schon viel erreicht, aber müssen da noch nachlegen. Außerdem mache ich mich für eine Sozialreform stark, dabei genießt die Rentenreform meine größte Priorität. Die Privatisierung der Altersvorsorge hat viele Menschen ohne ausreichende Rente hinterlassen, obwohl sie viele Jahre eingezahlt haben. Aber wir brauchen vernünftige Pensionen, um in Würde zu altern. Das ist eine Aufgabe, die bisher keine Regierung in Angriff genommen hat. Diejenigen mit der ökonomischen Macht dominieren auch die Pensionskassen.

Standard: Sie haben vier Jahre in Deutschland im Exil gelebt. Welche Erfahrungen haben Sie mit nach Chile zurückgenommen ?

Bachelet: Ich war damals noch sehr jung, und meine Erfahrungen sind daher begrenzt. Ich habe aber gelernt, mich einer fremden Gesellschaft zu öffnen. Zudem habe ich den Wert von Arbeit und Effizienz kennen gelernt und Erfahrungen in einer deutlich praktischeren als der chilenischen Gesellschaft gesammelt. Viel Deutsch ist mir leider nicht geblieben. Auch meinem Sohn nicht, der in Leipzig geboren wurde, aber schon mit acht Monaten nach Chile zurückkam. Aber er ist noch Fan der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft.