Österreich ist laut allen Umfragen das Land mit der größten EU-Skepsis. Die letzte "Eurobarometer"-Studie bietet am Vorabend der Übernahme der EU-Präsidentschaft durch Österreich ein verheerendes Bild: Nur jeder vierte Befragte hat "ein positives Bild von der Europäischen Union", verglichen mit einer immerhin 44-prozentigen Bejahung der Frage im Durchschnitt der 25 Mitgliedstaaten. Nur noch ein knappes Drittel der österreichischen Befragten hält die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für "eine gute Sache", während die Hälfte der Befragten EU-weit diese Frage bejaht. Österreich ist auch das Schlusslicht mit 29 Prozent bei der Befürwortung einer Erweiterung der Union. Was bedeutet dieser Befund für die österreichische Außen- und Innenpolitik?

Für die Regierung zweifellos die Versuchung, mit Hinweis auf einen "innenpolitischen Burgfrieden" die politische Bühne zu beherrschen, die relativ guten Wirtschaftsdaten maximal medienwirksam zu verkaufen und die internationale Rolle als "ehrlicher Makler" im Allgemeinen und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel als "Meister des Ausgleichens und Vermittelns" im Besonderen he^rauszustellen. Ob angesichts der Stimmungslage diese Rechnung als diskretes Lockmittel bei den Wählern im Herbst 2006 aufgehen wird, muss einstweilen offen gelassen werden.

Noch viel stärker ist freilich die Versuchung bei‑ der Opposition links und rechts, durch populistische Rhetorik die EU-feindliche Stimmung auszunützen, ja durch Hinweise auf die Kosten für die Steuerzahler und die Belästigungen der Bürger (etwa durch Verkehr und Überwachung) noch mehr anzuheizen. Dass etwa Gewerkschafter und Arbeiterkammern an dieser Situation bereits jetzt Geschmack zu finden beginnen, zeigt die geplante Protestversammlung aus dem ganzen Alpen-Adria-Raum zur Zeit des für 19.–21 Jänner angesetzten Treffens der EU-Arbeits- und Sozialminister in Villach.

Dass Bundeskanzler Schüssel und Außenministerin Plassnik wiederholt vor "überzogenen Erwartungen" hinsichtlich der EU-Präsidentschaft warnen und der Regierungschef die Erhöhung des österreichischen Nettobeitrages schon vor dem letzten Gipfeltreffen angekündigt hat, sind allerdings durchaus positive Zeichen – ebenso wie etwa die Bereitschaft der Grünen, im Gegensatz zur SPÖ, aus dem für alle EU-Staaten akzeptablen Budgetkompromiss kein politisches Kapital zu schlagen. Es ist übrigens paradox, aber wahr: In den heiklen Fragen der europäischen Integration befinden sich solche Gegenpole wie der katholische ÖVP-Chef Schüssel und Ungarns sozialistischer Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany auf der gleichen Wellenlänge, während ihre jeweiligen politischen Kontrahenten, hier die außenpolitisch wenig versierten Erben Kreiskys, dort der rechtskonservative Fidesz-Chef Viktor Orban in seinem "fast sozialistischen Paternalismus" (so die Neue Zürcher am 23. 12.) zuweilen populistische und protektionistische Töne anschlagen. Die kürzlich in Wien abgehaltene erste gemeinsame Tagung der Regierungen beider Staaten seit 1918 war jedenfalls ein Hoffnungsschimmer. Die Mischung aus historischer Verbundenheit und grenzüberschreitenden gemeinsamen nationalen Interessen hat sich mehr als einmal (zum Beispiel 1956 bei der ungarischen Revolution und 1989 bei der Grenzöffnung) als stärker erwiesen als politische oder ideologische Trennungslinien.

Die Präsidentschaft ist eine politische Herausforderung für die ganze politische Klasse Österreichs. Der glücklose Kommissionspräsident Barroso erhofft nun von Wien "neuen Schwung". Man sollte sich aber eher an Rilke halten: "Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles." (DER STANDARD, Printausgabe, 29.12.2005)