Österreichs EU-Vorsitz hat völlig unerwartet mit einem Kunstskandal begonnen, die - nicht nur negative - internationale Werbung für die kauzige Alpen- und Donaurepublik ist enorm. Unbezahlbar - nicht gerade für den EU-Gedanken, sicher aber für die Initiatoren. Lorenz und Springer zum Dank feiert die Doppelmoral wieder einmal Triumphe in einer verlogenen Landschaft. Und sie bietet einen tiefen Blick in die widersprüchlichen Seelen der österreichischen Machteliten.

Eine Massenzeitung, die täglich außer Weihnachten und Ostern mit nackten Mädchen Auflage macht, erregt sich über Kunstobjekte, die genau das, öffentliche Geilheit, zum Thema haben. Dieselbe Zeitung wettert gegen eine von ihr behauptete öffentliche Finanzierung der "anstößigen" Sujets, kassiert gleichzeitig aber Presseförderung für ihre Produktionen, die täglichen Nacktfotos und die wöchentliche illustrierte Bumsberatung inklusive.

Für eben in Schwechat gelandete "Geschäftsleute" werden auf den Rolling Boards jahraus, jahrein die "süßen" Attraktionen Wiens gezeigt. Das gemeine Volk hat sich darüber noch nie aufgeregt. Hätten diesmal die Verkehrsteilnehmer den Unterschied zwischen Bordell und Porno erkannt? Nein. Erst das zum kollektiven Kunstkritiker ernannte Volksphantom der Krone geifert via millionenfach vervielfältigten Aufmacher über Erfindungen von Künstlern.

Die Spitzenpolitik hat unter dem Druck der medialen Masse eine aufschlussreiche Vorstellung geliefert. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der zur modernen Kunst ein unverkrampftes Verhältnis hat, konnte sich den populistischen Forderungen noch am ehesten entziehen - wohl wissend, dass er vor "Überraschungen" nicht gefeit sein würde. Die Reaktionen aus der FPÖ und aus dem BZÖ waren vorhersehbar. Die Haltung der SPÖ ist erbärmlich. Sie hat sich, wie schon einige Male davor, auf Krone-Niveau begeben, Kalina/Cap haben offenbar auch in der Kulturpolitik die Macht ergriffen.

Erfreulicher die Stellungnahme des Grünen Karl Öllinger, der die Strick- und Wurzel-Mentalität in der Grünpartei überstrahlt. Ihr genereller Unmut versteckt sich hinter den Forderungen nach einer "lückenlosen Aufklärung" der Finanzierung. Obwohl gerade die Grünen wissen, dass provokante Kunst nicht ganz ohne öffentliches Geld aufmucken kann.

Weshalb man (zum wievielten Mal?) eine Debatte über "Staat und Kunst" führen könnte. Die umstrittene Kunstaktion sei für die Europapolitik "nicht hilfreich" gewesen, sagte Außenministerin Ursula Plassnik in der "ZiB 2". Fragen an die Politikerin: Soll Kunst "hilfreich" sein? Will sie Zensor geförderter Kunst werden? Oder ist sie der Meinung, wahre Kunst sei "schöner Schein" (Herbert Marcuse) und blendende Dekoration, welche die Mächtigen in Ruhe lässt? Und die Widersprüchlichen auch? Fazit: Als Kulturpolitikerin ist Plassnik ein Amateur. Aber fast schon ehrlich im Vergleich mit der Heuchelei des ehemaligen Ministranten Josef Cap, der auf die Idee kam, es handle sich in diesem Fall nie und nimmer um "Kunst".

Ein derart aufwändiges, europaweit ausgeschriebenes Projekt, an dem schließlich 75 Künstler teilgenommen haben, ist ohne öffentliche Finanzierung nicht zu realisieren. Das wissen alle, die sich jetzt das Maul zerreißen. Diese Leute wissen auch, dass die Auswahl der Projekte nur von unabhängigen Kuratoren getroffen werden kann - und nicht von der Regierung in einer Sitzung des Ministerrats, wo Biederkeit und Trachtensinn das Hauptkriterium der Selektion wären.

Am Tag vor Silvester wurden die Bilder von den Rolling Boards entfernt. Die Erregung wird sich legen. Was bleibt? Die Kunstrichter-Rolle eines Massenblatts, die sich der Menschenwürde sonst nicht so vehement verpflichtet fühlt. Und die kalkulierte Feigheit vieler Politiker, die jetzt schon mit dem Wahlkampf begonnen haben und sich dem medialen Populismus unterwerfen. Prosit 2006. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.12.2005/1.1.2006)