Seit über einem Jahrhundert war und ist der amerikanische Journalismus das unerreichte Vorbild für alle europäischen Medienleute - unabhängig, unerschrocken, dem Motto der ehrwürdigen New York Times verpflichtet "all the news that's fit to print". Aber das war einmal. Seit der Ära Bush ist auch diese Säule der US-Demokratie ins Wanken geraten, geht aus einer Studie der New York Review of Books hervor. Neben einem feindseligen Weißen Haus, verstärktem politischem Druck von rechts und geldgierigen Medieneigentümern, heißt es da, ist es vor allem die Selbstzensur der Journalisten, die den Standard drückt. Was heute in den USA geschieht, geschieht morgen in Europa, lehrt uns die Erfahrung. Am Beginn eines neuen Jahres haben wir allen Grund, dieses Warnsignal aus Amerika ernst zu nehmen.

Die ärgste Niederlage der US-Medien war natürlich die Leichtgläubigkeit, mit der diese seinerzeit der Regierungslüge von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen auf den Leim gegangen sind. Aber Medienkritiker zählen noch eine ganze Reihe anderer Versäumnisse auf. Die wichtigsten: Die Berichterstattung aus dem Ausland wird immer magerer und die Berichterstattung über soziale Fragen aus dem Inland desgleichen. Der ehemalige Reporter des angesehenen Fernsehsenders CBS Tom Fenton hat dafür in seinem Buch "Schlechte Nachrichten: der Niedergang der Berichterstattung, das Geschäft mit der Information und die Gefahr für uns alle" eindrucksvolle Zahlen zu bieten. 1970 hatte CBS 24 Auslandsbüros und Stringer (einheimische Korrespondenten) in 44 Ländern. Heute unterhält der Sender acht Auslandskorrespondenten, davon vier in London, und drei Büros. Kein Wunder, dass die Bewohner der einzigen Supermacht über den Rest der Welt wenig wissen.

Ebenso wenig wissen sie über die wachsende Armut im eigenen Land, über Arbeitsbedingungen in den Unterschichten, über die stetig wachsende Macht der Konzerne.

Auch hier sprechen die Zahlen Bände: Die New York Times hat 60 Reporter für das "Business"-Ressort, einen einzigen für Arbeitnehmerfragen. Und auch die Medienkonzerne selbst sind Teil der "Business"-Welt. Sie wissen, dass mit Beiträgen über erfolgreiche Manager eine Menge Werbung akquiriert werden kann, mit Beiträgen über allein erziehende arbeitslose Mütter aber gar keine. Die Folge: große Teile der Wirklichkeit, von den vielen zivilen Toten im Irak bis zur Arbeitslosigkeit in vielen Städten des amerikanischen Mittelwestens, deren Industrie ausgelagert wurde, bleiben in der Medienlandschaft ausgespart.

Freilich, Optimisten sehen Anzeichen, dass das Pendel mittlerweile wieder zurückschlägt. Der Hurrikan Katrina und das Elend der Bewohner von New Orleans hat vielen amerikanischen Medienleuten die Augen darüber geöffnet, dass es jenseits von Wall Street und Hollywood noch eine andere Welt gibt, über die die Bürger informiert werden sollten. Seither werden Regierungs- und Behördenvertreter wieder kritischer befragt und in manchen Redaktionsstuben wird Selbstkritik geübt. So schnell stirbt der berühmte amerikanische Journalismus nicht.

Und was bedeutet das alles für Österreich? Vieles, was wir aus Amerika hören, kommt uns bekannt vor. Wir haben die große amerikanische Journalistentradition nicht, aber in den letzten Jahren sind viele gute kritische Journalisten nachgewachsen.

Ein Vorsatz für 2006, dem Jahr, in dem der News-Konzern eine neue Tageszeitung starten und der Wettbewerb schärfer werden wird: Kritischer Journalismus ist für jedes Land ein kostbares Gut, das es zu hegen und zu pflegen und gegen vielerlei Pressionen zu verteidigen gilt. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.1.2006)