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Paul Auster, ein Abkömmling galizischer k. u. k. Bürger, liest Hölderlin und Kleist - und liebt Thomas Bernhard für dessen Spleen.

Foto: APA/EPA/Marta Cacho
Sein neues Buch handelt wiederum von einem Helden, der am Ende ist - als "Pessimist des Verstandes, Optimist des Herzens", wie Auster Daniela Strigl erzählt.



STANDARD:
Seit Thomas Mann gehen Leute nach Venedig, um dort zu sterben. Ihr Held Nathan Glass geht nach Brooklyn.

Auster: Brooklyn ist die originellere Wahl. Nathan ist einfach verbittert, ihn ekelt vor sich selbst. Er ist frisch geschieden, er ist - vielleicht - von Krebs geheilt. Er will etwas verändern, denkt sich, ich gehe dorthin und schaue, was passiert, vielleicht sterbe ich. Er ist gleichgültig. Aber natürlich geschehen dann Dinge, Verrücktheiten, die ihn aus der Depression herausführen.

STANDARD:
Die Geschichte einer Bekehrung also?

Auster: Nein, eine Komödie. Über die Seligkeit, am Leben zu sein. Das Buch stellt das Leben über den Tod. Da sind all die dummen Dinge, die wir einander antun: Und trotzdem ist es besser zu leben, als zu sterben. Der Held lernt eine Menge, über sich selbst und über andere, über den Glanz des gewöhnlichen menschlichen Lebens. Zum Schluss gründet er eine Firma, die die Biografien normaler Leute schreibt.

STANDARD:
Man könnte Sie für einen Optimisten halten.

Auster: Ich betrachte mich selbst weder als Optimisten noch als Pessimisten. Antonio Gramsci hat das sehr schön formuliert: "Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Herzens." Wahrscheinlich ist das das Thema des Buches. Denn wenn wir alle bis zur Verzweiflung deprimiert wären, kämen wir morgens nicht aus dem Bett. Aber wir stehen doch auf. Das ist optimistisch.
STANDARD:
Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund der umstrittenen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000.

Auster: Ja, das waren stürmische Zeiten hier. Ich verfolge die politische Entwicklung sehr aufmerksam und habe ziemlich dezidierte Meinungen. Im Buch ist es nur ein Thema unter vielen. Ich glaube, diese Wahl zwischen Bush und Gore war ein Wendepunkt der amerikanischen Geschichte. Es waren tatsächlich keine fairen Wahlen, es war ein Coup, ein Betrug. Etwas Dunkles ist damals in unser aller Leben getreten.

STANDARD:
Die Versicherung, für die Nathan Glass zeitlebens gearbeitet hat, heißt "Mid-Atlantic Accident and Life". In Ihrer Geschichte "City of Glass" (1985) heißt es, es gebe "nichts Wirkliches außer dem Zufall". Ist es nach wie vor der Zufall, der die tiefere Realität in Ihren Büchern bestimmt?

Auster: Der Zufall ist nur ein Element des Lebens. Er gehört zu dem, was ich gerne den "Mechanismus der Wirklichkeit" nenne. An ihm sind auch andere Kräfte beteiligt: Wille, Begehren, die Fähigkeit zur Entscheidung. Aber wie wir alle wissen, kommt nicht immer das heraus, was wir erwarten oder erhoffen. Etwas Unerwartetes kommt dazwischen. Das ist für mich der Zufall. Manchmal hat das schreckliche Folgen, manchmal gute - der Zufall an sich ist neutral. Die literarische Realität muss jedenfalls auch Unerwartetes umfassen: Die Welt funktioniert nicht wie ein realistischer Roman des 19. Jahrhunderts. Es gibt dauernd komische Zufälle, Fügungen, Déjà-vu-Erlebnisse. "Accident and Life", das meint das zufällige Leben, viele von uns sind ja durch einen Zufall oder Unfall am Leben . . .

STANDARD:
In Ihren Büchern ist viel von Büchern die Rede. Sie lassen Nathans Neffen Tom, den gescheiterten Literaturwissenschaftler, auch eine wahre Geschichte über Kafka erzählen: Er habe in Berlin, knapp vor seinem Tod, drei Wochen lang täglich einem kleinen Mädchen Briefe geschrieben, das seine Puppe verloren hat.

Auster: Ja, das hat seine Freundin Dora Diamant überliefert: Kafka schrieb als Puppe - eine schöne Verrücktheit. Da es im wirklichen Leben Autoren gibt, Bücher gelesen werden, sehe ich nicht ein, warum das nicht auch in meinen Romanen so sein soll. Alles ist möglich im Roman. Ich lasse Tom all das sagen, worüber ich gern einen Essay geschrieben hätte. Und ich habe hier auch Fußnoten eingeführt, in denen man etwas über die Vergangenheit der Figuren erfährt.

STANDARD:
Ihre Großeltern kamen aus der k. u. k. Monarchie. Wie ist Ihre Beziehung zur deutschen und österreichischen Literatur?

Auster: Sie waren keine Deutschen, sie stammten aus Stanislau in der heutigen Ukraine, das war bis 1918 Österreich-Ungarn, zwischen den Kriegen Polen, 1945 Sowjetunion. Derselbe Ort, vier verschiedene Staaten. Es gab wenig Verbindung zur deutschen Kultur, obwohl drei meiner Großonkeln für den österreichischen Kaiser fielen. Anders als die Eltern von Paul Celan in Czernowitz sprachen meine Vorfahren nicht Deutsch, sondern Jiddisch. Sie waren arme Leute. Ich selbst bin sehr an deutschsprachiger Literatur interessiert.

Vor allen ist es wohl Kafka. Aber auch Celan. Und Hölderlin. Ihn habe ich mit großer Leidenschaft mein ganzes Leben gelesen, zu ihm kehre ich immer wieder zurück. Und Rilke. Als ich jung war, war ich ein großer Thomas-Mann-Fan, jetzt nicht mehr so. Ich habe einiges von W. G. Sebald gemocht, er war ein sehr interessanter Autor. Auch etliches von Günther Grass finde ich toll. Dann Brecht. Ich mag ihn nicht, aber er fasziniert mich. Und natürlich die Großen - Goethe, Heine. Ja, Kleist nicht zu vergessen, er steht bei mir ganz oben! Besonders seine Prosa. Er ist einer der effizientesten und großartigsten Geschichtenerzähler der Weltliteratur. Er schrieb eine so klare Prosa, von einer Art handwerklicher Schönheit. All das habe ich auf Englisch gelesen, auch Hölderlin: Da habe ich alle Übersetzungen, ich vergleiche sie untereinander und mit dem deutschen Text.

STANDARD:
Und von den neueren österreichischen Autoren?

Auster: Ich mag Thomas Bernhard sehr - seinen Spleen. Er ist so zornig, auf alles. Da ist etwas, das diesen Zorn zu hoher Komödienkunst erhebt. Es ist wirklich lustig und so repetitiv, es geht einem auf die Nerven, und gleichzeitig ist es so originell und reizvoll, dass man weiterliest. Eines meiner liebsten Bücher ist Holzfällen, wo der Erzähler 200 Seiten lang einfach nur bei einer Dinner-Party in einem Ohrensessel sitzt und schäumt vor Verachtung gegen alle anderen Gäste.

STANDARD:
Ihre Pläne für 2006?

Auster: Im Frühling möchte ich wieder einen kleinen Film machen. Als Autor ist man lange eingesperrt, ab und zu muss man raus. Im Gegensatz zum Roman ist das Schreiben für den Film zweidimensional: Man muss alles in den Rahmen des Drehbuchs zwängen. Meine Arbeit mit Wayne Wang (Smoke, Blue in the Face) hat mir viel Spaß gemacht. Und 2006 ist der 100. Geburtstag von Samuel Beckett! Als ich seinen Verleger fragte, was da geplant sei, sagte er: nichts. Also gebe ich eine neue, vierbändige Ausgabe heraus, in der ich - hoffentlich - alle alten Druckfehler korrigiert habe. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.1.2006)

>>>Zur Person: Paul Auster

Zur Person

Paul Auster, 1947 in Newark (New Jersey) geboren, gilt mit seinem Faible für europäische Philosophie und Avantgarde fast als Woody Allen der Literatur: in Europa berühmt, in den USA relativ spät anerkannt. Im Genre des kafkaesken Detektivromans versöhnt er postmodernen Spieltrieb mit einem magischen Realismus. Dieser Tage ist sein neuer Roman "The Brooklyn Follies" erschienen (ab März auf Deutsch). (DER STANDARD, Printausgabe, 3.1.2006)