I.
Im 21. Jahrhundert kann eine Demokratie offen scheitern, weil sie die alten Lektionen nicht gelernt hat. Sie kann aber auch langsam vor sich hinsiechen, weil sie die neuen Herausforderungen nicht gesehen oder nicht angenommen hat.

Nach gut hundert Tagen schwarzblauer Regierung lässt sich sagen: Wenn es gut geht, kommen Europa und Österreich anders - stärker und reifer - aus diesen Turbulenzen heraus, als sie hineingegangen sind; Europa mit präziseren und rechtsstaatlich einwandfreien Vorstellungen darüber, was es heißt, eine Wertegemeinschaft zu sein, und Österreich als eine reflexivere Gesellschaft: politischer, selbstbewusster und neu positioniert was die Vergangenheit, aber auch was die Zukunft angeht.

II.
Die Sanktionen der Vierzehn sind rechtlich so problematisch wie politisch heilsam. Die Republik Österreich hat kein EU-Recht verletzt. Aber jede Demokratie, auch die europäische, die gerade geboren wird, braucht nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts den Grundkonsens, dass man "mit nationalsozialistischen Anspielungen im Allgemeinen seine politische Karriere beendet" (Armin Thurnher).

Vieles geht in der Hitze des politischen Gefechts, aber nicht alles ist möglich. Europa versteht sich als eine wehrhafte Demokratie, nicht mehr primär nach außen, dafür aber umso mehr nach innen: gegen die rassistischen und autoritären Versuchungen, die in einer turbulenten, unübersichtlichen Welt lauern.

Die neuen Gefahren für eine offene und zivile Gesellschaft kommen nicht in den alten Fratzen. Eben deshalb braucht es, um ihrer zu wehren, mehr als erregte Gefühle gegen eine missliebige Regierungspartei heute in Österreich, morgen in Italien, übermorgen in Polen oder Ungarn, mehr auch als Proteste und Sanktionen, die per Rundruf vom Ratspräsidenten der EU organisiert werden.

Die "wehrhafte Demokratie" ist ja kein neues Konzept. Am konsequentesten ist es wohl im Jahre 1949 im Bonner Grundgesetz ausformuliert. Um zu verhindern, dass eine Demokratie mit demokratischen Mitteln ausgehebelt werden kann, heißt es da sehr präzise: "Parteien, die es nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf anlegen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen . . . sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht."

Auf die Ziele, das Verhalten und auf die innerparteiliche Demokratie kommt es an, nicht nur auf Gesinnungen oder Meinungen, ja nicht einmal auf Vorurteile. Und das rechtliche Verfahren, die "rule of law" ist dabei stets heilig. Es gibt keinen Weg zur Rettung einer Demokratie jenseits vereinbarter Regeln, Verträge und Verfassungen.

Es wäre nicht ohne Ironie, wenn Österreich die Initiative in Brüssel ergreifen würde, um das verfassungspolitische Vakuum der EU in diesem Punkte zu überwinden: Wie realisiert sich eine Wertegemeinschaft auf eine demokratisch und rechtsstaatlich einwandfreie Weise?

III.
Österreich stellt sich seiner Vergangenheit infolge der Regierungsbeteiligung einer Partei, deren Obmann aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben schien. Indem es auf die Ausgrenzung nicht mit antieuropäischen Ressentiments reagiert, bekennt es sich nachdrücklicher zu Europa, als man je vermuten konnte, es ist wie ein zweiter Beitritt. Und indem seine umstrittene Regierung nach vorn blickt und in Angriff nimmt, was in allen entwickelten Industriegesellschaften auf der Tagesordnung der Politik steht, nämlich die Reform des Wohlfahrtsstaates, trägt Österreich - auf den zweiten Blick - auch zu einer sozialen Stabilisierung Europas bei.

Es sind ja zwei Dimensionen, auf denen sich entscheidet, ob Europa im 21. Jahrhundert starke Demokratien sehen wird. Sie müssen legitim sein, das heißt den alten demokratischen Idealen entsprechen. Und sie müssen leistungsfähig sein, das heißt Probleme lösen und Antworten bieten auf die Themen der Zukunft. Die Menschen werden älter, die Familien weniger, die Gesellschaften bunter, die Grenzen offener und nicht zuletzt strukturiert sich die Arbeit neu.

IV.
Es ist keine neue Nachricht mehr, dass diese Veränderungen die alten Strukturen nicht unberührt lassen können; das hat sich auch schon, beispielsweise, in (fast!) allen sozialdemokratischen Parteien Europas herumgesprochen. Neu allerdings ist das bange Gefühl, das da langsam heraufdämmert: dass die normalen Ängste des Wandels von den einen in böse Ressentiments ("Österreich zuerst") und von den anderen in falsche Status-Quo-Versprechen ("Hände weg von den sozialen Errungenschaften") gegossen werden könnten. Beide Reaktionen, so verschieden sie sind, würden nur gemeinsam den Boden bereiten für die große Gefahr des 21. Jahrhunderts: die neoautoritäre Versuchung. Dabei hätten Österreich und andere Länder in der Mitte Europas ja gute Chancen, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen sozialdemokratischer Orthodoxie und neoliberalem Zynismus einen dritten Weg zu gehen, wie immer er dann heißen mag.

Es wird sich einmal zeigen, ob die Turbulenzen nach 30 Jahren SPÖ-Kanzlerschaft eher eine Wachstums- oder eine Regressionskrise des politischen Systems in Österreich und Europa angezeigt haben.

Warnfried Dettling lebt als freier Autor in München und in Niederösterreich; zuletzt von ihm erschienen: "Bürgergesellschaft revisited oder: Von Österreich lernen?" in: Martin Schaurhofer u. a.: Räume der Civil Society in Österreich, Österreichische Forschungsgemeinschaft, Wien 2000