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Die Haut spüren, die Creme riechen, sie vielleicht auch schmecken: Solche Sinneserfahrungen sind alltäglich. Was aber tragen sie zur Identität bei, was sind ihre gesellschaftlichen Funktionen? Fragen für eine neu gewendete Philosophie.

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Man geht durch eine Tür und entdeckt plötzlich viele weitere Türen." Es ist ein poetisches und anschauliches Bild, das Madalina Diaconu verwendet, und es beschreibt sehr gut die Lust an der philosophischen Entdeckung. Einmal auf eine Spur gekommen, hat sie die Neugier gepackt und in bisher unbekannte Richtungen gelenkt.

Es geht ihr um die Sinne, wie wir sie landläufig kennen und aufzählen können: Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken. Die Sinneswahrnehmung - im Wortsinn: mit den Sinnen etwas für wahr nehmen können - ist die Basis der Phänomenologie, einer philosophischen Tradition seit Husserl und Forschungsgebiet der in Rumänien gebürtigen Diaconu.

Alle Sinne sollten an der Erkenntnis der Welt gleichermaßen beteiligt sein - theoretisch. Aber eigentlich nicht einmal theoretisch, denn schon sehr früh, seit Aristoteles, hat das menschliche Sensorium eine Hierarchisierung erfahren: in die primären "Fernsinne" (Gesicht und Gehör), die sekundären "Nah- oder Kontaktsinne" (Tasten und Geschmack) und den Geruchssinn dazwischen. Die letzteren drei sind nach Ansicht nicht nur der abendländischen Denker von minderer ästhetischer und ethischer Bedeutung. Auch im Alltag nehmen sie, als Folge der kulturellen Entwicklung, eine untergeordnete bis negative Rolle ein. Die Erziehung des Geruchssinns etwa, so konnte Diaconu schon bei Kant und Georg Simmel nachlesen, würde dem Menschen eher schaden.

Die Sinne haben ihre Geschichte. Von dieser Voraussetzung aus hat sich Diaconu an die Erkundung des Potenzials der vernachlässigten drei gemacht. Zunächst fällt auf, dass die Leistungen der jeweiligen Organe zwar empirisch und technisch (und natürlich kommerziell) vermessen und behandelt, aber nicht wissenschaftlich, speziell ästhetisch gewürdigt wurden. Dass ihre Bedeutung im Alltag (Wellness, Aromakuren, Weinseminare etc.) und in der Kunstproduktion in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, mag als Indikator eines Wandels interessant sein, ersetzt aber nicht eine umfassende Beschäftigung mit ihnen.

Vieles liegt da verschüttet und wäre freizulegen oder auch nur aufzugreifen. Zum Beispiel, ganz grundsätzlich, dass das griechische Wort für Intellekt, nous, ursprünglich eine dem Schnüffeln ähnliche Fähigkeit bezeichnete, die sich auf Mensch wie Tier erstreckte. Erst unter Platon und Aristoteles wurde diese Gabe zum "geistigen Sehen" verengt bzw. verändert.

Madalina Diaconu fand diesen Hinweis in einer 60 Jahre alten Arbeit. War erst einmal so eine Tür aufgestoßen, häuften sich weitere Verweise und Anregungen, aber auch Zeugnisse von Sackgassen. So untersuchte der Phänomenologe Hubert Tellenbach 1968 die Bedeutung von Geruchs- und Geschmackssinn, hatte damit aber keine Resonanz.

Man kann darüber spekulieren, wie schwer es dieses Unterfangen in einer Welt hat, die sich auf visuelle und akustische Reize konzentriert, eine Entwicklung, die durch Computer bzw. Multimediacenter nur verstärkt wird. Für Diaconu ist es keine Frage der Dominanz. "Jede Sinnesmodalität", schreibt sie, "eröffnet eine eigene Welt, die durch keine andere ersetzbar ist."

Die ganze Komplexität ihrer Forschung erschließt sich erst in ihrem Buch Tasten Riechen Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne (Königshausen & Neumann, Würzburg 2005). Es eröffnet ein Panorama von Schwindel erregender Vielfalt, von grundsätzlicher Erkenntnistheorie bis zum Reiz der Tattoos oder eines Kochkurses von Peter Kubelka.

Wohin könnte die nächste Tür führen? "Zu einer Zusammenarbeit mit Fachwissenschaftern", sagt Diaconu, "Kulturanthropologen, Neurologen, auch Architekten." Eines der Fernziele sei es, zu erkunden, inwieweit die Sekundärsinne therapeutisch eingesetzt werden können. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7./8. 1. 2006)