Berlin - Das Schreiben von Romanen ist nach Ansicht des
Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki (85) zu einem "Volkssport" in
Deutschland geworden. "In Deutschland gibt es ja wenige Menschen, die
keinen Roman geschrieben haben", sagte Reich-Ranicki am Montag vor
der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Freien Universität Berlin.
"Ich glaube, in keinem Land Europas ist das so verbreitet." Am späten
Nachmittag stand sein Festvortrag zum Thema "Berlin und ich" auf dem
Programm. Es ist bereits seine siebte Ehrendoktorwürde. Am 2. Februar
wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Tel Aviv verliehen.
Reich-Ranicki arbeitet im Moment an seinem Kanon der besten
deutschen Essayisten. Darin hat er auch je eine Arbeit seiner
hartnäckigen Kritiker Joachim Fest und Martin Walser aufgenommen.
Anders als in einigen Medien gemeldet, sei das aber kein
Versöhnungsangebot, sondern eine Selbstverständlichkeit, meinte
Reich-Ranicki.
"Tod eines
Kritikers" von Walser sei echt schlecht geschrieben
Walser nehme er wirklich übel, dass sein Roman "Tod eines
Kritikers", so schlecht geschrieben sei. "In einen Roman, in dem ich
eine so große Rolle spiele, hätte er mich intelligenter kritisieren
können." Dennoch sei er jederzeit zur Versöhnung bereit. "Wenn wir
uns zufällig begegnen sollten, auf der Weidendammer Brücke, unweit
des Bahnhofs Friedrichstraße, und sollten wir uns so begegnen, dass
keiner dem anderen ausweichen kann, vielleicht würde ich ihm sagen:
"Gehen wir mal einen Schnaps trinken". Vielleicht."
Die Ehrendoktorwürde der Freien Universität nannte Reich-Ranicki
eine späte Genugtuung. Die Vorläuferin der Berliner Humboldt-
Universität, die Friedrich-Wilhelm-Universität, hatte dem
Abiturienten Reich-Ranicki 1938 ein Germanistik-Studium wegen seines
jüdischen Glaubens verweigert. In seiner Autobiografie "Mein Leben"
bedauert der Kritiker mehrmals, dass er nicht Literatur studieren
konnte. (APA/dpa)