Foto: Council of the European Union
derStandard.at: Die ersten Besuche von UNO-Sonderbeauftragtem Ahtisaari finden derzeit statt. Wie beurteilen Sie den Beginn der Verhandlungen?

Lehne: Diese erste Gesprächsrunde hat vor allem den Sinn, den Parteien aber auch den Nachbarn in der Region Gelegenheit zu geben, ihre Position darzulegen. Auf der Basis dieser Kontakte wird Ahtisaari dann die weitere Strategie festlegen.

derStandard.at: Eine leicht "entschärfte" Unabhängigkeitserklärung aus Pristina soll als Verhandlungsgrundlage dienen, was steht in dieser Erklärung, sehen Sie eine Chance, dass sich das Kosovo mit weniger als der Unabhängigkeit zufrieden gibt?

Lehne: Die gute Nachricht ist, dass beide Seiten bereit sind, sich auf diesen Prozess einzulassen. Dies war bis vor wenigen Wochen gar nicht sicher. Pristina und Belgrad stellen Verhandlungsdelegationen zusammen und arbeiten Positionspapiere aus. Dass sie es dabei für notwendig halten, ihre Maximalforderungen nochmals festzuschreiben, ist weniger günstig, war aber zu erwarten. Pristina bekräftigt die Unabhängigkeit als unverrückbares Ziel, Belgrad ist bereit, dem Kosovo ein hohes Maß an Selbstverwaltung zuzugestehen, hält aber an der territorialen Souveränität Serbien-Montenegros über den Kosovo fest.

Wir hoffen, dass sich beide Seiten bald auf die vielen substantiellen Fragen konzentrieren werden, die im Rahmen des Statusprozesses behandelt werden müssen, Fragen des Minderheitenschutzes, des religiösen und kulturellen Erbes aber auch schwierige juristische und wirtschaftliche Probleme. Falls es gelingt, bei diesen Themen, die direkt die Interessen der Menschen im Kosovo berühren, Fortschritte zu erzielen, wird man auch bessere Aussichten haben, die Kernfrage der künftigen staatlichen Struktur zu lösen.

derStandard.at: In der UNO-Resolution Nr. 1244 zum Kosovo ist festgehalten, dass das Kosovo "Bestandteil der Bundesrepublik Jugoslawien" bleibt. Gilt das nun auch für "Rest-Jugoslawien"? Wie wird mit diesem Passus umgegangen?

Lehne: Die Sicherheitsratsresolution 1244 gilt weiterhin, da das heutige Serbien und Montenegro an die Stelle der Bundesrepublik Jugoslawien getreten ist. Die Resolution bestätigt die territoriale Integrität des Staates, bevollmächtigt aber auch den UN- Generalsekretär, eine Prozess einzuleiten, der zur Klärung des zukünftigen Status des Kosovo führen soll. Und dieser Prozess ist nun durch die Ernennung Ahtisaaris in Gang gekommen.

derStandard.at: Wäre das Kosovo aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Infrastruktur überhaupt fähig, sich selbst zu verwalten?

Lehne: Das heutige Kosovo hat enorme wirtschaftliche und soziale Probleme und eine wenig leistungsfähige institutionelle Infrastruktur. Andererseits verfügt es über eine junge Bevölkerung, mit beträchtlichem unternehmerischen Talent und über signifikante Bodenschätze (z.B. bedeutende Kohlevorkommen). Die ungeklärte Statusfrage ist ein wichtiges Hindernis für den wirtschaftlichen Fortschritt. Kosovo hat heute kaum Zugang zu den internationalen Finanzinstitutionen. Investoren werden durch die politische Unsicherheit abgeschreckt. Eine Lösung des Status wird hier eine Verbesserung bringen. Der Kosovo wird aber auf jeden Fall für viele Jahre internationale Unterstützung benötigen.

derStandard.at: Wie soll die Situation der serbischen und anderer Minderheiten gelöst werden?

Lehne: Das wird sicher eine der Schlüsselfragen der Verhandlungen sein. Wir wollen ein Kosovo, in dem jeder - ungeachtet seines ethnischen oder religiösen Hintergrundes - sein Leben ohne Furcht und in Freiheit gestalten kann, in dem alle Bürger gleich behandelt werden und alle Kulturen geachtet werden. Die Regelung der lokalen Selbstverwaltung, der Schutz des religiösen Erbes, Garantien für die Rückkehr von Vertriebenen und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen sind wesentliche Elemente in diesem Zusammenhang.

derStandard.at: Wie ist die offizielle Position der EU in den Statusverhandlungen?

Lehne: Tatsächlich gab es in den letzten Monaten eine deutliche Konvergenz der Standpunkte. Beim letzten Außenministerrat wurde eine grundsätzliche Position formuliert. U.a. wurde klargestellt, dass die EU ein demokratisches und multi-ethnisches Kosovo anstrebt, dass eine Rückkehr zur Situation vor 1999 ebenso abgelehnt wird wie eine Teilung des Kosovo oder sein Anschluss an einen Nachbarstaat. Dies schafft eine gute Grundlage für unsere Beteiligung an den Gesprächen.

derStandard.at: Wird die EU die Anerkennung des Kosovo als autonomen Staat als Bedingung für die Annäherung von Serbien-Montenegro an die EU formulieren?

Lehne: Die Lösung der Kosovofrage ist keine spezifische Bedingung für die Annäherung Serbien und Montenegro's an die EU. Andererseits will die EU ungelöste Probleme dieser Art nicht importieren. Die von der EU der gesamten Region eröffnete Perspektive der Teilnahme am Integrationsprozess sollte die Lösung dieses Problems wesentlich erleichtern. Die Möglichkeit, an einem Binnenmarkt und an einem Raum gemeinsamen Rechtes teilzunehmen, in dem Grenzen unsichtbar werden und die Menschen Bewegungsfreiheit genießen, relativiert traditionelle Konzepte der staatlichen Souveränität.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die Anrainerstaaten Albanien, Mazedonien, Montenegro und Bulgarien?

Lehne: Sie alle haben legitime Interessen an der Kosovofrage. Ihr Standpunkt wird gehört und berücksichtigt werden. Dies zeigt schon die erste Reise Ahtisaari's, die auch die regionalen Nachbarn einbezieht. Die Kosovofrage und die Zukunft der Staatenunion Serbien und Montenegro sind die letzten ungelösten Statusprobleme der Region. Falls diese Fragen geklärt sind, können sich die Länder voll auf die wirtschaftliche Entwicklung und auf den Fortschritt in Richtung Europa konzentrieren.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die USA? Ist die Hoffnung einiger Kosovo-Politiker begründet, dass die USA trotz möglicherweise erfolgloser Verhandlungen das Kosovo als unabhängig anerkennen würden?

Lehne: Die aktive Teilnahme der USA an diesem Prozess ist entscheidend für einen Erfolg. Es gibt eine enge Koordination zwischen Europa und der USA im Rahmen der so genannten 'Kontaktgruppe'. Auch im Verhandlungsteam Ahtisaaris wird Washington vertreten sein. Das Problem lässt sich nur durch gemeinsame Bemühungen der wesentlichen internationalen Akteure lösen. Alleingänge bringen nichts.

derStandard.at: Für die "ergebnisoffenen" Verhandlungen ist kein Zeitlimit vorgesehen. Ein Lebensprojekt für die Gruppe rund um Ahtisaari?

Lehne: Die Situation im Kosovo ist nicht gut. Die Lösung des Statusproblems drängt. Ahtisaari hofft, dass der Prozess im Laufe des Jahres 2006 beendet werden kann. Es ist aber nicht sinnvoll, artifizielle Fristen zu setzen.

derStandard.at: Im Kosovo gab es in letzter Zeit wieder vermehrt Anschläge gegen Serben. Eine Begleiterscheinung der Gespräche? Wie wird das Problem mit der Entwaffnung der Guerilla-Kämpfer angegangen werden?

Lehne: Der Beginn der Gespräche führt natürlich zu einer gewissen Nervosität. Extremisten auf beiden Seiten sind versucht, die Situation für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. Allerdings sind heute die Militärpräsenz der NATO und die UNMIK Polizei in viel besserer Verfassung als zur Zeit der Unruhen im März 2004. Wir sind zuversichtlich, dass sie die Situation unter Kontrolle halten können.

derStandard.at: Warum wurde Wien als Verhandlungsort gewählt?

Lehne: Es ist sicher nicht nur eine Frage der günstigen Flugverbindungen. Österreich hat sowohl im Kosovo als auch in Serbien einen guten Namen als verlässlicher und wichtiger Partner. Das wird sicher zum Verhandlungsklima beitragen.