Hundert Tage Regierung sind auch 100 Tage Widerstand gegen sie - ein doppelter "Geburtstag" sozusagen. Lässt sich daraus schließen, dass der viel gescholtene politische Stillstand in diesem Land überwunden wurde? Ist dies Teil jener Demokratisierung, die einige Kommentatoren euphorisch bejubelt haben? Kurz - ist dies eine positive Entwicklung?

Es bedarf eines gewissen Zynismus (und auch einer gewissen Verzweiflung), um die vielfältigen Formen des Widerstands auf allen gesellschaftlichen Ebenen einfach gutzuheißen, nur weil es Aktivitäten sind, also Bewegung bedeuten. Zynisch - denn das hieße, hierin einen Selbstzweck zu sehen, der von Ursache und Ziel des Widerstands absieht; verzweifelt - denn das hieße, von jener gesellschaftlichen Blockierung zu abstrahieren, die sich allerorts bemerkbar macht.

Modell "Sparflamme"

Bei aller Aktivität greift zugleich auch eine große Lähmung um sich: Viele Bereiche funktionieren quasi nur noch auf Sparflamme (auch ein Spareffekt der Regierung). Am deutlichsten wird dies in der Kunst: Sie pendelt zwischen Agonie und Widerstand.

Diese Blockierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche bei gleichzeitig stark erhöhter politischer Aktivität ist charakteristisch für eine Krisensituation.

Eine gesellschaftliche Krise besteht darin, dass ein Bereich "dominant" wird. Dadurch wird das, was Max Weber als "Differenzierung der Wertsphären" bezeichnet, für den Moment rückgängig gemacht - nicht um alle Bereiche auf eine gemeinsame Grundlage zu verpflichten, sondern weil ein Konflikt zentral wird: Ein Konflikt bestimmt alle Bereiche, von der Wirtschaft bis zur Kunst.

Wir befinden uns in Österreich in so einer Situation - und diese Krise ist eine politische. Der politische Konflikt überträgt sich auf alle Sphären, die damit eine tief greifende Spaltung erfahren. Nach 100 Tagen hat sich ein Charakteristikum der Krise jedoch verändert: Sie ist nicht mehr akut - sie ist chronisch geworden. Nach 100 Tagen lautet der Befund: Die Spaltung der Gesellschaft wurde auf Dauer gestellt - das ist die neue Normalität.

In dieser Konstellation agiert die neue Regierung: Sie hat diese Spaltung nicht nur hervorgerufen, sie befördert sie auch auf doppelte Weise. Zum einen durch den massiven sozialpolitischen Umbau. Hier gibt sie dem, was zunächst nichts anderes als eine pragmatische Erfüllung von EU-Kriterien ist, eine eigene Wendung: Diese Sparflamme soll das gesamte politische Feld verändern - dass diese Veränderung nicht gerade in Richtung Pluralismus geht, ist evident. Vom Zivildienst über die Posttarife bis zur Arbeiterkammer wird die Budgetkonsolidierung zu einem massiven politischen Eingriff - was schon am geringen volkswirtschaftlichen Nutzen der geplanten Maßnahmen augenscheinlich wird.

Autoritäre Rhetorik

Aus diesem Grund geht der Umbau auch mit einer autoritären Rhetorik einher, die deutlich macht, dass man hier nach dem Aschenputtel-Prinzip verfährt: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Eine Differenzierung, die etwa Andreas Khols Wort von "den Schafen und den Böcken" ausspricht, oder - noch unverblümter - der Chefredakteur der Presse, der keinen Grund sieht, "Kulturinitiativen das knappe Geld nachzutragen, die mit der ,Schweineregierung' nichts zu tun haben wollen". Hier wird das Missverständnis deutlich, welches im Pluralismus nur ein spezifisches demokratisches Prinzip sieht - und kein allgemeines.

Solche Rhetorik ist auch das Stichwort für den zweiten Aspekt dieser neuen ideologischen Herrschaft: Neben der institutionellen Front findet auch ein massiver Definitionskampf, ein Kampf um die Hegemonie statt. Ort dieser Auseinandersetzung ist der Diskurs zu den so genannten "Sanktionen", insbesondere dessen neu eröffneter Schauplatz - die "Volksbefragung".

Projektion nach außen

Natürlich sind solche Formen angewandter Bürgernähe nicht sinnlos: Sie haben vielmehr die Funktion, aus einem Plebiszit ein Votum für die Regierung zu machen. Im vorliegenden Fall ist die "Volksbefragung" der Schlussstein eines kunstvollen rhetorischen Gebäudes, dessen Fundament die völlige Ausblendung der Ursachen für die Sanktionen ist. Durch die Projektion nach außen reduziert man das österreichische Problem auf die Frage: Wie kommt man da wieder raus?

Diese Strategie hat der Regierung ihren einzigen wirklichen Erfolg beschieden: die Reservierung einer paradoxen Opferrolle, die in einer spezifisch österreichischen Mischung Servilität mit Aggression verbindet. So wurden die bilateralen Sanktionen uminterpretiert in eine Aktion, die zwischen "Freunden Österreichs" und jenen unterscheidet, die man sich - so Andreas Khol - merken wird. Dazu gehört es auch, Regierungsanhänger als Patrioten, Regierungsgegner hingegen als "Vernaderer" darzustellen. Kurz, dies ist der Versuch, die Regierung mit Österreich gleichzusetzen. Eine klassische Strategie des Populismus, der die gesamte Regierung befallen zu haben scheint. Kann man von einer "Zähmung" Jörg Haiders sprechen angesichts solch einer grassierenden populistischen "Infektion"?

In ihrem hetzerischen Umgang mit den "ungerechtfertigten", den "schrecklichen" Sanktionen, die Wolfgang Schüssel "bis ins Mark" treffen, ist der Regierung jedoch ein Fehler unterlaufen. Wir wissen: Es geht darum, dass manche Hände nicht geschüttelt, manche Diplomaten nicht empfangen werden. Die "Schrecklichkeit" der Sanktionen kann also nicht auf dieser "empirischen" Ebene liegen. Sie muss vielmehr in jenem Bereich gesucht werden, der die letzten 100 Tage wesentlich bestimmt hat: in der harten Realität der symbolischen Politik.

Wenn man diese anerkennt, dann muss man jedoch auch deren andere Seite anerkennen: die Bedrohung durch eine "symbolische" Gefahr, die von einer Partei ausgeht, die den bisherigen Grundkonsens einer Gesellschaft permanent verletzt. Wenn die Sanktionen schrecklich sind, dann ist es auch (und noch viel mehr) die Politik der FPÖ. Wie die Sanktionen, greifen auch die Freiheitlichen das imaginäre Moment des Gemeinwesens an, das leere Zentrum, das es zusammenhält. Und die Folgen sind schrecklich - sie treffen die Gesellschaft bis ins Mark.

Man kann nicht auf der einen Seite die symbolische Effizienz betonen, die man auf der anderen Seite als "Empiriker" völlig negiert. In diesem Sinne waren die letzten 100 Tage eine harte Lektion im politisch Imaginären.

Isolde Charim ist Philosophin in Wien.