Die Europäische Union als politisches Konzept verändert sich ständig. Während in der Nachkriegszeit das Friedensmotiv dominierte, spielt es heute kaum noch eine Rolle. Zählen heute nur mehr wirtschaftliche Interessen? "Während wir uns mit der Identitätsfrage herumquälen, bestimmen Konzerne, Lobbys und Unternehmen die Szene", bemerkt Michael Gehler, Zeithistoriker und Autor im derStandard -Gespräch. "Und trotzdem ist die politische und historische Bedeutung der EU groß, aber die nationale Regierungen sprechen nicht darüber." Fragen, deren Klärung laut Gehler längst überfälig sind: Soll die EU wichtiger als die Staaten werden? Was will die EU sein?

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derStandard.at: Ist die EU das erste politische Konzept, das sich den Frieden auf die Fahnen schreibt?

Gehler: Nein. Frieden als vorgegebenes Ziel von Politik ist ein viel älteres Phänomen. Als Beispiele sind die Pax Romana oder die Pax Britannica, im 20. Jahrhundert der Völkerbund oder die UNO zu nennen. Von der "Pax Americana" ist heute in Anführungszeichen zu sprechen. Für den Frieden waren erklärtermaßen fast immer alle. Das heißt aber nicht viel. Auf den wahren Gehalt von Politik kommt es an.

derStandard.at: Gibt es Ähnlichkeiten zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie?

Gehler: Ja und Nein. Die Monarchie ist ein Lehrbeispiel - positiv wie negativ: Sie hatte Bindungskraft und konnte Loyalität erzeugen. Sie war kein Völkerkerker, sondern ein Völkerverbund mit gemeinsamem Rechtsraum, integriertem Arbeitsmarkt und relativ modernem Verkehrsverbund. Infolge der Erosion des dynastischen Prinzips, des Bedeutungsverlusts der Armee, der Kirche und des Adels zog sich der Staat zurück und verlor an Verantwortungsautorität.

Verzögerte Demokratisierung, verspätete Modernisierung und bescheidene kulturelle Autonomie für die Nationalitäten verstärkten Unzufriedenheit, Nationalismus und Separatismus. Der Zusammenbruch der Mittelmächte hat Österreich-Ungarn aufgeteilt und dieser Union von außen ein Ende bereitet. Mit Blick auf die EU von heute: Innere und äußere Herausforderungen ähneln sich. Es kann ein vergleichbares Schicksal drohen und dazu braucht es gar keinen Krieg.

derStandard.at: Wie groß ist die friedenspolitische Bedeutung der EU heute noch?

Gehler: Ich würde mehr von politischer Stabilität sprechen, die Garant für den wirtschaftlichen Erfolg war. Doch gilt es mit dieser Wirkungsmacht vorsichtig und zeitgerecht umzugehen und sorgsam hauszuhalten. Die Gefahr der Überforderung ist bereits mit der letzten großen, der historisch größten Erweiterungsrunde gegeben. Was sich im größeren Kontext mit dem "imperial overstretch" der USA vollzogen hat, droht nun auch der EU mit überzogenen Erweiterungsambitionen, die ihre Leistungskapazitäten überbeanspruchen. Das sieht die Bevölkerung jedenfalls so. Und sie hat Recht.

derStandard.at: Der Aspekt des Friedens hat für die Bevölkerung der Europäischen Union nach einer Friedensphase von 60 Jahren eigentlich kaum mehr integrative Bedeutung. Welche Themen könnten die EU-Bevölkerung heute einen?

Gehler: Es stimmt, dass das Friedensargument im öffentlichen Diskurs weitgehend konsumiert ist und verbraucht erscheint. Das kann aber von niemandem hingenommen werden. Die Balkankriege sind noch nicht so lange her. Diese nach wie vor lebenswichtige Funktion der EU – übrigens profitiert auch die Wirtschaft enorm davon – stärker zu würdigen, setzt mehr historisches Bewusstsein der EU-Regierungen voraus. Dieses aber ist nach wie vor von nationalstaatlichen Interessen dominiert.

Ein europäisches Bewusstsein mit Blick auf die Friedensdimension kann ohne die Geschichte nicht auskommen, was man in der Kommission noch nicht begriffen hat. Einigkeit über Einigendes besteht vor allem in Bedürfnissen nach Gewährleistung von sozialer Sicherheit, politischer Stabilität, dem Ausbau der Menschenrechte, Garantie von Rechtsstaatlichkeit, kultureller Dialogfähigkeit und nicht zuletzt der Wahrung von materiellem Wohlstand.

derStandard.at: Kann es aus historischer Sicht eine europäische Identität überhaupt geben?

Gehler: Es gab und gibt sie wiederholt vor allem im Zuge äußerer Bedrohungsszenarien, wie immer man diese bewertet. Die Frage ist aber nicht, ob es eine europäische Identität gibt, was Gelehrte wie Philosophen und Historiker beschäftigt, sondern zu welchem Zweck und was damit gewonnen werden soll. Wem soll eine solche Identität dienen? Für welche Legitimationsinteressen? Sind wir doch ehrlich: In der EU und zwischen den EU-Staaten geht es um knallharte Interessenpolitik, die sich jenseits von der Frage einer europäischen Identität bewegt. Lobbys, Konzerne und Unternehmen bestimmen hier die Szene, während wir uns mit Identitätsfragen herumplagen.

derStandard.at: Hat die EU beziehungsweise Europa irgendwo endgültige Außengrenzen?

Gehler: Es gibt mit Blick auf die derzeitigen EU-Institutionen sicherlich eine Grenze der Aufnahmefähigkeit. Geographisch betrachtet gab es verschiedenste Europa-Konzepte, die weder einheitlich argumentierten noch überzeugten. Die definitiven realen Außengrenzen bestimmen sich durch grund- und menschenrechtliche Standards. Die Kopenhagener Kriterien von 1993 sind hier maßgebend, wenngleich diese noch erweitert werden müssten. Die offizielle Leugnung von Genoziden ist inakzeptabel. Ich denke hier an die Türkei.

Die Grundrechtscharta sollte schon längst in Kraft sein. Insofern ist die Überwindung der Ratifikationskrise und die Revitalisierung des Verfassungsvertrags für weitere Erweiterungen unabdingbar.

derStandard.at: Die EU wird als Elitenprojekt bezeichnet. Aktuell sind die Bemühungen der Union groß, die Bevölkerung vom Gegenteil zu überzeugen. Kann das gelingen?

Gehler: Aufgrund der jetzigen Verhältnisse ist dies kaum möglich. Solange die wichtigsten TV- und Printmedien überwiegend in nationalen Kontexten berichten und publizieren, gibt es keine breite europäische Öffentlichkeit. Diese wäre Voraussetzung für ein stärkeres EU-Bewusstsein, wobei hier auch zu fragen wäre, warum und wozu.

Hauptproblem ist der latente Widerspruch zwischen nationalstaatlicher und EU-Interessenpolitik. Dieser wird nicht ehrlich und offen diskutiert. Und: Solange die Finalitätsfrage der EU unbeantwortet ist, werden Orientierungslosigkeit, Unbehagen und Verunsicherung in der Bevölkerung bleiben. Auf diese Fragen sind Antworten zu geben: Soll die EU wichtiger als die Staaten werden? Was will die EU sein? Erst wenn das klar ist, kann man weiter sehen.

derStandard.at: Welche politische Bedeutung hat die EU aus internationaler zeithistorischer Sicht?

Gehler: Die Bedeutung ist in den letzten 15 Jahren 1989-2004 enorm gewachsen. Das waren insgesamt erfolgreiche Integrationsjahre. Binnenmarkt, Eurozone und die Vereinigung des Kontinents haben die EU als internationalen Akteur mehr denn je zuvor profiliert. Die EU ist heute weit mehr als die EG der 1980er Jahre. Nach außen hat ihr Ansehen vor allem in Asien stark zugenommen. In Japan oder Taiwan sieht man die EU als Modell zur Überwindung des Kalten Krieges in der eigenen Region. Die Bewunderung seitens der USA hält sich in Grenzen. Die EU ist längst für Sie ein Konkurrent geworden. Wie eine Währungsunion ohne Wirtschafts- und Politische Union funktionieren kann, ist für viele Außenstehende kaum nachvollziehbar. Was der EU noch fehlt ist eine eigene Rechtspersönlichkeit, wie sie der Verfassungsvertrag vorsieht.