Die aktuelle Lage: unübersichtlich bis nicht nachvollziehbar. Nanni Moretti in "Aprile".

Foto: Stadtkino
Der Autor, Produzent und Darsteller ist auch einer der populärsten Kritiker von Silvio Berlusconi.


Wien - Nanni Moretti hat einmal zwei französischen Filmkritikern nur unter der Bedingung ein Interview gewährt, dass er sie vorher in einem Tennismatch über den Platz hetzen und schlagen durfte. Ein anderes Mal hat er einer Society-Journalistin wegen ihrer "trendigen" Sprechblasen-Fragen eine geklebt. Ersteres ist eine wahre Begebenheit, Zweiteres eine Szene aus dem Film Palombella Rossa (1989) - beides, Realität und Kino, sind bei ihm untrennbar ineinander verwoben.

Autor, (Selbst-)Darsteller, Sportfanatiker, Produzent, Filmverleiher, politischer Aktivist, Liebhaber von Sachertorten: Die unterschiedlichen Facetten, in denen sich Nanni Moretti durch und gegen die italienische Mediengesellschaft bewegt, ergeben in Summe das Profil eines der denkwürdigsten kritischen (komischen) Einzelgängers des europäischen Kinos.

Nichts von der im italienischen Film der letzten 50 Jahre weit verbreiteten ästhetischen Nachlässigkeit ist in seinen politischen "Komödien" (siehe auch La messa è finita, 1985) zu sehen und zu hören. Anders als selbst die populärsten Berlusconi-Gegner (wie Adriano Celentano und Roberto Benigni) ist er unabhängig genug, um für Kritik an seinem liebsten Feind nicht doch auf dessen Medienkanäle zurückgreifen zu müssen. Tatsächlich dreht er derzeit unter dem Arbeitstitel Der Kaiman ein "Sittengemälde Italiens unter Berlusconi".

Dabei wird er erstmals nicht sein eigener Hauptdarsteller sein - was mit lieb gewordenen Traditionen in Morettis Schaffen radikal bricht: Der 1953 in Südtirol geborene Filmemacher hatte sich anfangs ein fiktives Alter Ego zurechtgeschrieben, den zunehmend am System verzagenden KP-Funktionär und Neurotiker Michele, dessen wirre Lebenswege er über mehrere Filme (darunter Ecce Bombo, 1978) hinweg weiterschrieb, verfolgte und spielte. Und spätestens mit Caro diario verdichtete er seine sprunghaften Wechsel zwischen Spiel und essayistischer Reflexion zu einer Art Tagebuch- und Episoden-Kino, in dem Moretti ganz bei sich selbst und gleichzeitig ein oft fast schon dämonisch eloquenter Fake ist.

Hier, im Kino, erlaubt er es sich, etwa einen Kulturkritiker im Schlafzimmer heimzusuchen, um ihn geharnischt über schwer verständliche Rezensionen aufzuklären - eine typische Moretti-Szene. Und wenn das Lamentieren nichts mehr hilft? Ohrfeige! Eine Lieblingsszene aus einem Kurzfilm: Moretti kann Berlusconi im Fernsehen nur noch ertragen, wenn er einen riesigen Joint inhaliert.

Wie grandios unprätentiös und betörend präzise er als Filmgestalter arbeitet, zeigt am unverstelltesten sein bewegendstes, traurigstes Meisterwerk Das Zimmer meines Sohnes: im Prinzip eine weitere Variation seines ewigen Hauptthemas - wie beginnt es im italienischen Bürgertum zu bröckeln? -, hier aber auf besonders heiklem Terrain: der tragische Verlust eines halbwüchsigen Kindes. Filme wie dieser, man kann es gar nicht oft genug betonen, wären im deutschen Sprachraum und speziell in Österreich heute undenkbar.

Ein kleines Juwel im Rahmen der jetzt laufenden Moretti-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum sei besonders ans Herz gelegt: Unter dem Titel The Last Costumer porträtierte er in knapp 23 Minuten die Schließung des Ladens befreundeter Apotheker in New York: Darüber, wie unserer Gesellschaft Dinge abhanden kommen, die uns Sinn und Halt und Freude geben - darüber erzählt er gern, notfalls auch in Form eines Home-Movies, das notfalls nur für den privaten Gebrauch festhält, wie das war, damals, als man dachte: "Schlimmer geht's nicht". Nicht aufzugeben ist die Quintessenz des Kino-Lebens von Nanni Moretti. (DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.1.2006)